Katzmann und die Dämonen des Krieges. Uwe Schimunek
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Der Kopf flog in hohem Bogen über den Zaun der Rennbahn, landete vor der Haupttribüne.
Der Schwarze machte einen Satz, mit einem Sprung landete auch er im Rund des Scheibenholzes, wandte sich zur Tribüne. Unter den beiden Türmen des massiven Steinkolosses saßen Skelette. Tausende. Sie klapperten Beifall. Es klang, als würde eine Ladung Besenstiele von einem Laster fallen.
Nach einer Verbeugung nahm der Schwarze den Kopf auf und hielt ihn in die Höhe. Aus seinem Mantel holte er Kürbismasken. Die Fratzen grinsten wie breitgezerrte Wölfe in einem Hohlspiegel.
Der Schwarze jonglierte. Der Applaus toste lauter. Die ersten Gerippe standen von ihren Sitzen auf, klapperten mit allen Knochen.
Nach ein paar Runden schoss der Schwarze die Kürbisse nacheinander gen Tribüne, wo sie an den Säulen der Restaurantanlage im Erdgeschoss zerbarsten. Die Menge tobte. Die Skelette sprangen, fielen sich in die Arme - ein paar Gebeine flogen in die Luft.
Der Schwarze verbeugte sich tief, winkte seinen Zuschauern zu, wandte sich dem linken Flügel der Tribüne zu, der Mitte, der rechten Seite. Noch einmal beugte er sich mit dem Kopf fast bis zum Boden. Dann streckte er Preßburgs Kopf abermals in die Höhe und schwang sich zum Himmel hinauf. Flog zurück über den Park, über Schleußig hinweg, nach Plagwitz. Rasend schnell.
Das Licht blieb diffus, die Sonne schien die Dämmerung nicht beenden zu können - ganz, als sei die Zeit stehengeblieben.
Der Schwarze erreichte die Weißenfelser Straße, stoppte seinen Flug vor einer der schmucklosen Mietskasernen. Er blickte durch das Fenster im dritten Stockwerk auf das schlafende Mädchen.
Sie hatte die Daunendecke bis über ihr Kinn gezogen, wie ein Schild, das sie vor der Unbill der Welt schützen sollte. Der Schwarze kniete sich auf den Fenstersims, legte Preßburgs Kopf neben sich ab, presste die linke Hand auf die Scheibe. An seiner rechten wuchs ein Nagel aus dem Zeigefinger, scharf wie eine frischgeschliffene Klinge. Er zog mit dem Fingernagel einen Kreis - so groß wie ein Küchentablett - um die linke Hand.
Das Glas klebte an der Linken, als er es vorsichtig aus der Fensterscheibe löste. Mit einem Schwung schleuderte der Schwarze das Glas gen Himmel - es flatterte im Flug und erinnerte dabei an einen Hut, den ein feiner Herr auf einen Garderobenständer wirft. In hohem Bogen pfiff das Glas über das Haus gegenüber und verschwand.
Der Schwarze nahm den Kopf auf und schwebte durch das Loch, näherte sich dem Bett des Mädchens, legte Preßburgs Kopf auf das Kissen.
Liesbeth Weymann schrie, so laut sie konnte. Mit einem Ruck schoss sie in ihrem Bett hoch. Die Decke flog zum Fußende.
Sie riss die Augen auf. Stille. Kein Schwarzer da. Sie blickte über ihre Schultern auf das Kopfkissen. Kein Kopf. Das Fenster unversehrt.
Auf ihrer Stirn rann der Schweiß, verwandelte Haare und Augenbrauen in feuchtes Gewebe. Das Herz raste, die Schläge unter der Haut klangen wie ein Pochen an der Tür.
Es pochte an der Tür.
Liesbeth Weymann griff nach der Decke, zog sie über das Nachthemd.
Poch, Poch!
Sie sah, wie sich die Klinke bewegte, die Tür geöffnet wurde.
«Mama!»
«Kind, warum schreist du denn so? Da gefriert einem ja die Haut.»
Mokka, Zeitung, Zigarette - Heinz Eggebrecht genoss seinen Luxus. Der Tisch stand direkt am offenen Fenster, und viel Platz bis zur Tür in seinem Rücken blieb nicht. Aber er konnte immerhin auf die Zeitzer Straße schauen.
Auf das möblierte Zimmer musste er einen großen Teil seines Lehrlingslohnes verwenden, dafür konnte Heinz Eggebrecht in der Südvorstadt wohnen, zwischen all den Handwerkern, kleinen Ladenbesitzern, Lehrern - dem Leipziger Mittelstand.
Nicht wenige seiner Kollegen bei der LVZ wohnten in den Mietskasernen im Osten der Stadt. Vielleicht, weil sie es so nicht weit bis zur Redaktion in der Tauchaer Straße hatten, sicher aber auch aus Überzeugung. Dabei waren viele von ihnen durchaus bürgerlicher Herkunft. Zwar kam nicht jeder aus so gutem Hause wie Katzmann, aber das Gymnasium hatten sie fast alle besucht.
Heinz Eggebrecht trank einen Schluck Mokka. Diese Delikatesse verdankte er seiner Stelle bei der Zeitung. Die Anzeige für den Kolonialwarenhändler war ihm tatsächlich gut gelungen, deshalb hatte Heinz Eggebrecht auch kein schlechtes Gewissen, das Päckchen mit dem schwarzen Mokkapulver anzunehmen. Auch die feinen englischen Zigaretten kamen von einem Kunden. Die Kollegen sahen die kleinen Präsente zwar nicht gern, sagten aber auch nichts. Sicher werteten sie seinen jämmerlichen Lehrlingslohn als mildernden Umstand.
Das Getränk lag auf der Zunge wie ein winziger Teich, Bitterkeit breitete sich im Rachen aus, belebte den Gaumen. Herrlich! Noch ein Zug von der Zigarette. Ein perfekter Samstagvormittag.
Unten auf der Straße kauften die Leute Waren ein. Hier oben klangen die Menschen, als schnatterten Enten im Stimmbruch. Gelegentlich klang eine Türglocke von einem der zahllosen Ladengeschäfte in der Zeitzer Straße herauf.
Heinz Eggebrecht nahm die Morgenausgabe der Leipziger Neuesten Nachrichten und las. Er begann mit einem kurzen Artikel über Die Aussichten der Frühjahrsmesse, ganz oben auf der Titelseite: Über 11 500 Aussteller seien bereits angemeldet, 40 000 Einkäufer hätten sich beim Messeamt eingetragen. Es schien also wieder aufwärts zu gehen, mit der Wirtschaft, mit dem Leben.
Die Berichte aus der lokalen Wirtschaft las Heinz Eggebrecht in den Neuesten Nachrichten gerne. Die endlosen Börsenberichte interessierten ihn mangels Vermögen nicht, die Hinweise auf die Versammlungen der Deutschnationalen ignorierte er. Die Zeitung bekam er von der Vermieterin kostenlos, wenn diese sie gelesen hatte. Er schaute in das großbürgerliche Blatt aber auch, um zu wissen, was die anderen so trieben.
Zum Beispiel ging es um die Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher an die Ententestaaten. Die Neuesten Nachrichten behandelten dieses Thema seit Wochen fast täglich auf dem Titel. Auch heute berichteten sie, dass der Leipziger Studentenausschuss gestern auf einer Versammlung gegen die Auslieferung protestiert hatte. Es gehe um die Ehre Deutschlands, wurde Rektor Brandenburg zitiert.
Heinz Eggebrecht dachte an den Krieg, sah die von deutschen Soldaten gehängten Zivilisten vor seinem inneren Auge, wie sie an den Galgen zappelten. Die Schreie vor den Erschießungen, schrill wie berstendes Glas. Die Leichenberge. Der Gestank …
Ehre ? Ekel spürte er. Aber waren die Sieger tatsächlich besser, oder konnten sie nur die Moralischen spielen, weil sie den Krieg gewonnen hatten?
Schnell blätterte er weiter, während er an der Zigarette zog. Auf Seite drei fand er einen kurzen Bericht über Stresemann und den Wiederaufbau Deutschlands. Stresemanns Rede vor der Leipziger Ortsgruppe des Industriellenverbandes wurde zitiert: Sozialisierung sei gefährlich, Politik solle aus den Betrieben herausgehalten werden - lauter Thesen, die in der LVZ sicher heftig bekämpft würden, könnte sie erscheinen. Am Ende wurde Stresemann optimistisch: Die Arbeitslust im Lande sei wieder vorhanden. Auch der Wunsch nach Autorität.
Ersteres konnte Heinz Eggebrecht nachvollziehen, von Autorität allerdings hatte er seit dem Krieg die Nase gestrichen voll.
Schnell