Crescendo bis Fortissimo. Manfred Eisner
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Читать онлайн книгу Crescendo bis Fortissimo - Manfred Eisner страница 15
Diese Erkenntnis vertrieb nur allmählich die Nebelschwaden der Großherrlichkeit aus Hans-Peters Gehirn. In seinen Gedanken erdachte er sehr oft – ja man könnte sogar sagen: täglich – ertragreiche Geschäfte oder wichtige Aufgaben. In die Tat setzte er allerdings nichts davon um. Erst an jenem Tage, an dem er mit der bitteren Realität konfrontiert wurde, dass er von nun an ein Mieter im eigenen Hause sei und darüber hinaus diese Miete nicht einmal bezahlen könne, wuchs sein gekränkter Stolz über seine bisherige Trägheit und Indifferenz hinaus.
Tief in seiner Seele begrub er also seinen Stolz und begab sich kleinlaut zur Eisenwarenhandlung des Herrn Hannes Timm in der Deichstraße. Hannes Timm hatte ihm bereits vor einigen Monaten eine Stellung in seinem Geschäft angeboten. Hans-Peter war damals über diese Dreistigkeit äußerst erbost gewesen. Er hatte angenommen (oder ehrlicher gesagt, es als Ausrede vor sich selbst und seiner Familie behauptet), dass Hannes Timm ihm nur deshalb ein solch „übles“ Angebot gemacht haben könne, um sich später über ihn und seine Familie in ganz Oldenmoor lustig machen zu können. Er hatte deshalb das Angebot schroff abgelehnt, sodass Hannes Timm beleidigt und zugleich wütend weggegangen war.
Hans-Peter empfand den Weg bis zur Eisenwarenhandlung wie den Gang nach Canossa. Er hatte das Ganze aber reiflich überlegt und sich vorher mit seiner Gattin ausführlich beraten. Je näher er seinem Ziele kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Vielleicht hätte ihm sogar am Ende der Mut zum Hineingehen gefehlt, hätte sich nicht zufällig gerade in dem Augenblick, als er vor der Tür des Geschäftes angelangt war, diese plötzlich geöffnet.
Vor ihm stand Hannes Timm und blickte ihn überrascht an. „Sie hier, Herr von Steinberg?“
„Ja, ich bin es, Hannes Timm. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Ich weiß, ich bin Ihnen noch eine Erklärung schuldig.“
„Na ja, Mann, denn kommen Sie man rinn!“
Zackig drehte sich Hannes Timm auf den Absätzen herum und schritt, gefolgt von Hans-Peter, durch das Geschäft in sein Kontor. Als sie dort angelangt waren, zeigte er stumm auf einen Stuhl und schloss die Tür.
„Was verschafft mir die Ehre?“, fragte er bissig.
„Zunächst möchte ich mich in aller Form bei Ihnen entschuldigen, Herr Timm, für mein törichtes Beneh...“
„Geschenkt, von Steinberg. Ich war zwar damals stinksauer wegen Ihrer so grimmigen Absage, die einem Rauswurf sehr nahe kam. Später habe ich oft darüber nachgedacht. Es muss Ihnen vorgekommen sein, als ob ich Ihnen ein Almosen hinwerfen wollte. Das ist natürlich für einen Herrn von Steinberg unzumutbar, von Ihrer Warte aus gesehen. Nein, nein, unterbrechen Sie mich nicht! Ich möchte Ihnen nur noch sagen, wie leid es mir tat, dass wir derart erzürnt auseinandergingen. Ich hatte es nur gut mit Ihnen gemeint, das müssen Sie mir glauben.“
„Ich glaube und danke Ihnen sehr für Ihre freundlichen Worte. Dennoch muss ich auf meine Entschuldigung bestehen. Wie dem auch sei, ich hätte mich Ihnen gegenüber einfach nicht derart unhöflich benehmen dürfen. Ich bitte Sie, meine Entschuldigung gütigerweise annehmen zu wollen, Herr Timm.“
„Na denn, wenn es Ihnen auf der Seele brennt, mein lieber von Steinberg, dann wollen wir doch Ihren Qualen ein Ende setzen und Ihnen die Absolution erteilen. Also dann: Entschuldigung vollständig angenommen, Konto ausgeglichen!“
Hannes Timm lächelte und auch Hans-Peter war sichtlich erleichtert. Die beiden Männer gaben sich die Hand.
„Un dat ward nu glix or’nlich fiert, wie sich dat ’hört!“
Vergnügt leerten die beiden einige Gläser Korn. Als Hans-Peter von Steinberg leicht beschwipst den Weg zurück ins Herrenhaus beschritt, war er der glückliche Inhaber einer Anstellung im Kontor des Herrn Timm. Und von dem Verdienst, so sagte er sich auf dem Nachhauseweg, von dem Verdienst können wir leben! Und sogar meinem Herrn Schwiegersohn in spe seine Miete bezahlen!
6. Bedrängnis
Clarissa sitzt in ihrem Zimmer und schreibt in ihr Tagebuch:
Gestern Abend waren wir bei den Eltern. Der Papa hat Heiko ernsthaft ins Gewissen geredet, damit er endlich seine Bibliothek von jenen politischen Büchern bereinigt, deren Besitz heute so gefährlich ist. Als der Papa noch dazu empfahl, auch die „undeutschen“ Bücher zu entfernen, wurde der Deichkater sehr zornig und es gab eine hitzige Diskussion. Ich verstehe Heiko sehr gut und muss ihm recht geben. Was bedeutet überhaupt „undeutsch“? Wie können Bücher, die von weltberühmten deutschen Schriftstellern in einer so herrlichen deutschen Sprache geschrieben wurden, als „undeutsch“ bezeichnet werden? Nur weil deren Verfasser vielleicht anders dachten und denken als diejenigen, die heute – leider – bei uns das Sagen haben? Wer gibt ihnen dieses Recht? Warum hat eigentlich das Leben so viel mit Politik zu tun? Die Antworten auf meine Fragen, wenn es sie überhaupt gibt, kommen und verschwinden im Rauschen des Windes. Ich befürchte sehr, dass sich dieser Wind eines Tages zu einem Orkan steigern wird, der über uns alle hinwegfegt.
Der Papa und auch die Mama haben schließlich Heiko grundsätzlich recht gegeben, aber ihm dennoch sehr ans Herz gelegt, an uns alle zu denken. Jetzt, nachdem unsere Hausgehilfin (Silke hat mich nach ihrem letzten BDM-Abend belehrt, dass sie jetzt nur noch so bezeichnet werden möchte, das hätte die Vorsitzende der NS-Frauenschaft so verkündet) sich derart an seinen Büchern zu schaffen gemacht habe, sei es höchste Zeit, das Richtige zu tun. Natürlich haben meine Eltern damit auch recht. Aber was ist jetzt noch das Richtige? Gegen Ende dieser Unterhaltung war der Deichkater äußerst wortkarg. Man konnte ihm ansehen, dass er sehr angestrengt darüber nachdachte, was er nun unternehmen solle.
Gerade als wir aufgestanden waren, um nach Hause zu gehen, kam Onkel Johann, eingehüllt in seine übliche Bierfahne, von seiner Stammkneipe. Trotzdem war er sehr nett zu uns und wir blieben noch ein Weilchen. Er erzählte von Friedrich Winklers Verhaftung. Es habe im Gasthof einen ziemlich heftigen Wortwechsel über dieses Thema gegeben. Als die Diskussion in Streiterei auszuarten drohte, habe der Wirt bei der Polizei angerufen. Weil Onkel Johann dies bemerkte, habe er schnell gezahlt und sei nach Hause gegangen.
Obwohl mein Patenonkel nicht ganz vom Bier ablassen kann, trinkt er jetzt nicht mehr so viel wie früher. Nachdem er schwer erkrankt war, musste er eine Abmagerungskur machen und sieht heute wieder besser aus. Er ist nicht mehr so apathisch wie früher, aber ich muss trotzdem noch jedes Mal schmunzeln, wenn er mit fast geschlossenen Augen und mit den über dem Leib gekreuzten Händen auf dem Sofa thront und so aussieht, als ob er eingeschlafen sei. Nur dann und wann öffnet er ein wenig die Augen und gibt sein seufzendes „Ach, mein lieber Gott!“ von sich.
Onkel Johann ist für mich eine tragikomische Figur. Obwohl er eine kaufmännische Lehre absolvierte, gelang es ihm nie, sich dazu zu entschließen, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Selbst als der Papa anfing, bei Hannes Timm zu arbeiten und ihm seitdem immer wieder vorhielt, dass es auch für ihn notwendig sei, seinen Unterhalt zu verdienen, machte er keinerlei Anstalten, sich um eine Stellung zu bemühen. So liegt er nach wie vor der Familie auf der Tasche. Heiko wird jedes Mal wütend, wenn dieses Thema aufkommt. Abgesehen davon bin ich sehr glücklich darüber, dass der Papa und die Mama sich jetzt mit dem Deichkater gut verstehen, was ja beileibe nicht immer so war.
Als wir dann endlich nach Hause fuhren, war Heiko entspannt und ausgelassen. Er pfiff fröhlich vor sich hin. Ich war über seinen Frohsinn sehr verwundert. Unser ernstes Problem ist doch noch keineswegs gelöst. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er lächelnd: