Flüsterasphalt. Horst Pukallus
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Ihr Dasein war wunderschön und friedlich gewesen. Bis drüben, in der größeren Wohnung, die wegen hoher Miete anfangs leer geblieben war, der neue Nachbar einzog.
Bei den ersten, gelegentlichen Begegnungen im Korridor hatte sie ihn lediglich am Rande wahrgenommen. Doch irgendwann bewog irgendetwas sie zu guter Letzt, völlig gegen ihre Gewohnheit, zum Hinsehen. Seitdem glichen ihre Gedanken Raketen, die allesamt ein und dieselbe Richtung nahmen: Ständig zielten sie auf den Unbekannten hinter der Tür auf der anderen Seite des Korridors.
Seine Anziehungskraft wirkte auf Heliane mit geradezu unwiderstehlicher Eindringlichkeit. Sie befand sich unter einem regelrechten Bann.
»Viele Menschen achten sorgsam darauf, unter welchem Stern ihr Leben steht«, erzählte Internet-Prediger Pater Damasus, zu dessen WebSite sie inzwischen per Link übergewechselt war; eine virtuelle Persönlichkeit, die bei Eingeweihten längst im Rufe der Heiligkeit stand. »Es ist ihnen nicht einerlei, ob es ein Stern ist, der Gutes verheißt, oder ein Stern, der Dunkles ankündigt. Der helle Morgenstern, der den kommenden Tag ankündet, ist Christus. Wie der Morgenstern auf die aufgehende Sonne, so verweist Christus auf Gott, die unverzichtbare Sonne der Gerechtigkeit ...«
Es verhielt sich nicht so, dass sie sich ein bisschen in jemand Unerreichbares verliebt hätte; so etwas war ihr schon mehrmals passiert, und jedes Mal hatte sie es verwunden. Nein. Dieses Mal fuhren die Gefühle ihr hinab in die Scharte (wie ihre Mutter, einst Europameisterin im Mariechentanz, das weibliche Geschlechtsteil stets genannt hatte) und lösten Empfindungen aus, deren Ungestümheit sie erschreckte. Keine harmlose Vernarrtheit hatte sie befallen. Sie verspürte wollüstiges Verlangen. Ihr Leib gierte nach einem Mann, von dem sie nur den Namen wusste, der auf seinem Türschild stand.
»Wer sein Leben unter den Stern Christi stellt, dessen Leben steht unter einem guten Stern, denn es steht unter dem Stern der Hoffnung...«
Ach, was für schöne Worte Pater Damasus immer spricht, dachte Heliane. Sie geriet darüber richtig in Erregung. Nein. Ihre eigene Hand erregte sie. Ohne dass sie es so recht gemerkt hatte, war ihre Linke hinab zum Schamhügel geglitten und umstrich dessen fleischige Wölbung. Unruhig zuckten unterm hochgerutschten Rock ihre Oberschenkel. Schon zweimal hatte sie, seit der Nachbar drüben wohnte, seinetwegen masturbiert, einmal vor dem Schlafengehen, und einmal, weil sie aufgewacht war, mitten in der Nacht, aber natürlich hatte sie sich jedes Mal am folgenden Tag einer Computer-Beichte unterzogen.
Ein Kribbeln prickelte durch die Wurzeln ihrer Schamhaare. Unwillkürlich senkte sich ihr Zeigefinger in die Falte, die sich an ihrem vergewaltigungssicheren Petite-fleur-Slip abzeichnete.
Heliane überlegte, dass sie bei ihrem Online-Dienst nachgucken könnte, ob der neue Nachbar eine E-Mail-Adresse hatte.
Als Broder die Wohnung betritt, reißt er sich das Jakko herunter. Das Ding stinkt nach Snackeria. Er flitzt zur mit dem Institut vernetzten Workstation. Schaltet den Computer und den LCD-Monitor ein. Er ist spät dran.
Täglich zwölf bis vierzehn Stunden Geschufte im Labor. Zähe Debatten mit unfähigen Laboranten. Er müsste noch länger bleiben, wäre nicht jedem einsichtig, dass ein Mensch Pausen benötigt. Dann um 22 Uhr Videokonferenz. Kommt immer pünktlich zustande. Anders als früher. Im vergangenen Jahrhundert gab es dauernd Kommunikationsschwierigkeiten. Ständig hieß es: F.P. 1 antwortet nicht. Metaluna 4 antwortet nicht. Datex-J antwortet nicht. Oder ähnlich. Damit ist es seit Längerem vorbei.
Dennoch nimmt er sich Zeit, um flugs dem Kleinen Dicken einen Räucherkegel anzuzünden. Das ist nach der Heimkehr unweigerlich seine erste Handlung.
Der Kleine Dicke steht auf einer Kommode gleich hinter der Wohnungstür. Streng genommen ist er eine Kupferstatuette Ganeshas (H 36,4 cm). Ganesha ist eine hinduistische Gottheit mit Elefantenhaupt, Schmerbauch und vier Armen. Seine Hände halten: eine Muschel, ein Diskus, eine Keule, eine Wasserlilie. Er scheint damit zu fuchteln. Er gilt als Gott der Weisheit und Beseitiger aller Hindernisse; als Schenker des Erfolgs im Weltlichen ebenso wie im Spirituellen.
Nicht dass Broder Bedarf an Übersinnlichem hätte. Die Statuette erinnert ihn daran, wie er früher mal war: Ein kleiner, dicker Junge. Fuchtelte herum. Fing viel an, brachte wenig zu Ende. Tendenzieller Versager.
Irgendwann hat er doch noch die Kurve gekriegt. Seitdem zündet er dem Kleinen Dicken jeden Tag ein Räucherkegelchen an. Zum Gedenken an alle kleinen, dicken Jungs, die nicht wissen, was aus ihnen werden soll.
Lieber würde er sofort eine Flasche Chante-Alouette aufmachen. Stellt sich aber im Hinblick auf die Videokonferenz eine Flasche Perrier hin.
Täte auch lieber erst einmal wichsen, um den ärgsten Stress abzubauen. Beim Durchhetzen des schiefwinklig verglasten Korridors hat er wieder die Nachbarin gesehen. Diesmal zum grauen Kostüm blaue Kniestrümpfe. Sah aus wie eine Schuluniform. Verhalf ihm augenblicklich zu einer Latte.
(Irrt er sich, oder trifft er sie neuerdings häufiger im Hausflur?)
22 Uhr. Zack-zack!, teilt sich der Bildschirm. Da sind Dr. Lubok und Dr. Schratz. Von Anfang an ist Dr. Schratz Broders besonderer Spezi geworden. Sobald eine Videokonferenz ausgestanden ist, schiebt er unweigerlich zu Dr. Schratz’ Würdigung unverzüglich die CD mit W.A. Mozarts seltener gesungenem Kanon »O du eselhafter Peierl« (Köchel-Verzeichnis # 560a) mit dem unzweideutigen Bescheid »Leck mich doch geschwind im Arsch« in den Player.
Das Palaver nimmt seinen Lauf.
»Die Kernresonanzspektroskopie hat wieder zu keinen neuen Erkenntnissen geführt, was die Parameter der Ligand-Protein-Wechselwirkung angeht«, sagt Dr. Lubok.
Dr. Schratz’ Visage verzerrt sich zu Grimassen. Wohl unbewusst. »Weitere Moleküldynamiksimulationen sind ebenfalls negativ geblieben.« Auf dem Monitor schimmern seine Kontaktlinsen leicht rötlich. »Herr Erckelenz, wann wird die alternative Syntheseplanung abgeschlossen?«
Es gibt ein Problem. Codierte elektrische Schwingungen prägen Wissenspakete in Matritzenform künstlichen, aus Aminosäuren bestehenden Liganden ein, die an bestimmten Rezeptoren der Gehirnzellen andocken. Der datenhaltige Ligand hat in diesem Fall eine sperrige Molekülstruktur und einen multiplen Bindungsmodus. Daraus entsteht ein unerwünschtes Zusammenwirken mit anderen Rezeptoren. Beim Mäuse-Test kommt es zu epileptischen Symptomen ähnlichen Nebeneffekten. Keine Chose mit sales appeal.
Wird die Molekülstruktur reduziert, tritt ein vorzeitiger Zerfall der Informationsmatrize ein. Unklare Ursache. Ligand muss optimiert werden.
Die Syntheseplanung erfolgt virtuell. Und was Computer anbelangt, ist Dr. Schratz ein Depp. Gerne sagte Broder es ihm ins Gesicht. Aber damit würde er seine Karriere im Keim ersticken.
»Herr Dr. Schratz«, antwortet er daher lediglich, »die Berechnungen können sich hinziehen.« Der Pharmakophor, der die Molekülstruktur des Liganden beschreibt, ist nämlich ein Tetraeder mit 4 Ecken und 6 Kanten; hat deshalb eine Millarde Kombinationsmöglichkeiten. Allein deren Abspeicherung erfordert tausend Gigabyte. »Ich versuche Deskriptorenvarianten zu entwickeln, die sich auf die Topologie der Moleküle beschränken und durch Reduzierung der Datenmasse die Bearbeitungsdauer verkürzen.«
Dr. Luboks Miene bezeugt unterschwelliges Gefrette. »Sind Sie imstande, einen Termin zu nennen?«
»Nein.«
Wie jedes Mal verfällt Dr. Schratz in Geschwafel. Zur Illustration lädt er die zur Auswahl gestandenen, computergenerierten Ligandendesigns. Statt der