Flüsterasphalt. Horst Pukallus
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Читать онлайн книгу Flüsterasphalt - Horst Pukallus страница 6
Heliane ersah mit aller Klarheit, was sie zu tun hatte. Sie musste zu ihm gehen. Das Heil lag in ihrem Handeln.
Auf dem Umweg durch die Küche sandte sie dem Himmel Stoßgebete. Lieber Gott, steh mir bei. Hilf mir, o Gott. Führe meine Hand. Lass mich nicht im Stich.
Sobald ihre Bestimmung feststand, geschah alles wie von selbst. Ihre Entschlossenheit beförderte sie sicheren Schritts durch den Korridor. Fest drückte sie die Klingeltaste.
Als er die Tür öffnete, hatte er das Telefon in den Händen. Er lächelte, aber er konnte sie nicht mehr täuschen; sie erkannte hinter seiner Heuchelei die Seelenlosigkeit des Heiden oder Dämonen oder Unholds oder Herzausreißers.
»Kommen Sie rein«, sagte er und wich zur Seite.
»Gern«, beteuerte Heliane. Unerschrocken strebte sie in den Orkan der Strahlen, in dem Elektrophile zu leben pflegten. So leicht, als hätte sie Schmutz von der Haut gewaschen, hatte sie sich aller Furcht entledigt. Führe meine Hand.
Sie war zu schön, diese Aussicht auf Rettung, die Gewissheit des Heils. Ihrem Herzen flossen Kraft und Selbstvertrauen aus ihrer Faust zu; herauf aus der Härte und Schärfe des flach an ihr Bein gedrückten Filetiermessers.
Letzte Trendansage
Ich will mir eine fürchterliche Zerstreuung machen.
Schiller: Die Räuber
Als die Ministerin, in Gedanken eigentlich bei der Perlhuhnbrust in Wirsingsoße, die sie für den Abend bei ihrer Köchin in Auftrag gegeben hatte, aber stark abgelenkt durch den Latexpenis ihres mit Minineuronalnetzen ausgestatteten Orgasmusslips, der ihr gegenwärtig die Scheidenmuskulatur massierte, durchs polarisierte Seitenfenster der gepanzerten Staatskarosse einen Blick ins Freie warf, überschaute sie im Ozon-Sommersmog einen Querschnitt der pseudoexotischsten Zeitgenossinnen und -genossen, eine kolossale Ansammlung von Alltagskarnevalisten, allesamt wohl brauchbare KandidatInnen für die Talkshow Hausfrauen fragen – Perverse antworten: Dauergäste der öffentlichen Kontaktbörse, Prostituierte sämtlicher Geschlechter, Penner, Schulschwänzercliquen, Obdachlose, Herumsteher, islamische sprechende Mumien, eine Blondine im Kosakenrock, Rollstuhlfahrer und sonstige Amputierte, Zigarettenmafiosi, ein Häuflein Elender waiting for the man, Tussengangs, einen Jesus-Adoranten mit vergilbtem Pappschild (Slogan: Errichtet 1en Damm d. Gebets geg. d. Schmutzflut d. Höllenmächte), diverse Möchtegern-Ayatollahs und wahrhaftig auch ein paar Reisende, alle fast ausnahmslos erkrankt an Telefonitis. Durch die Sicherheitsglasscheiben der Limousine drangen gedämpft Stimmengewirr in hundert Sprachen und Trommelklang, bildeten die Geräuschkulisse eines gewöhnlichen deutschen Bahnhofsvorplatzes.
Manchmal blieben Leute vor der seitlich des Bahnhofsvorplatzes entrollten Großbildwand stehen, die noch kein Bild zeigte; sie staunten sie einige Augenblicke lang an, dann wandten sie sich merklich enttäuscht ab, als hätten sie sich ein unterhaltsameres Spektakel erhofft. Noch eine Verarschung, sagten ihre gebeugten Schultern.
Abgestoßen durch die Sodom-und-Gomorrah-Szenerie wandte die Ministerin die Augen ab und heftete sie auf den linken Ärmel ihres traditionell rotstiftroten SmartClothes-Solarenergie-Hosenanzugs Marke Nano Magnat. Sofort projizierte das multifunktionelle Nanoflux-Induktionsgewebe die Uhrzeit, der integrierte Blutdruckmesser auch den Blutdruck: 11 Uhr 09, und ihr Blutdruck stieg.
Neun Minuten Verspätung.
Eine Blamage. Die Ministerin fasste die Verzögerung als persönliche Kränkung auf, also konnte das Ansteigen ihres Blutdrucks gar nicht befremden. Sie empfand das Ärgernis als dermaßen peinlich, dass sie am liebsten Amnestan inhaliert und von vorn angefangen hätte. Aber der erste Einsatz des GR-TES (Großraum-Toxoiderkennungsscanners)-Systems Argus Panoptes sollte als offiziell-öffentliche Veranstaltung stattfinden. Folglich wartete die Ministerin keineswegs als Einzige: Die Ordnungsamt-Techniker im mit dem AP-Pfauenschwanzlogo geschmückten telemetrischen Messdienstwagen, Dutzende von Mitarbeitern mehrerer privater Sicherheitsdienste und des Ordnungsamtes in ihren Mannschaftsfahrzeugen, eine Schar Medienreptilien, die mit Mienen der Ratlosigkeit ihre Übertragungswagen umstanden, alle warteten sie auf den neuen Hightech-Erlöser Argus Panoptes, ein Spinoff-Produkt der Krause-Sprengstoffscanner für Flughäfen. Doch wie jeder waschechte Erlöser ließ offenbar auch Argus Panoptes sich Zeit mit seinem Erscheinen. Der erdstrahlenfeste Rollbildschirm des Bordcomputers blieb dunkel.
Zwölf Minuten Verspätung.
Ungehalten schaute die Ministerin hinüber zum Messdienstwagen und aktivierte durch zweimaliges Zwinkern mit dem linken Lid die Teleskopzellen der Seitenscheibe. Die Vergrößerung ließ Köpfe hinter den Wagenfenstern erkennen, gab jedoch keinerlei Aufschluss über die Vorgänge im Innern. Frech schien das überlegen vieläugige Emblem des Wagens den Blick der Ministerin zu erwidern. Ihr Missmut wuchs.
Sie sah den Staatssekretär an. Obwohl er einen tres chic Nanoflux-Anzug in der Modefarbe Russian Night trug, damit er mit ihrem offensiven Imagestyling harmonisierte (selbstverständlich ermutigte sie ihre Untergebenen zum Tragen von SmartClothes mit vollintegrierter nanoelektronischer Ausrüstung, allerdings maximal bis zur Marke Nano Markant Plus), wirkte er, wie er da in einen Winkel der antistatisch imprägnierten Sitzpolsterung geschmiegt saß, ziemlich eingeschüchtert. Neben offensivem Imagestyling betrieb die Ministerin nämlich eine aggressive Körperpolitik. Sie beanspruchte viel Platz. Dreieinhalb Sitze für sich, Clutchbag, Rollcompu und Waffentresor.
Sobald die Ministerin den Staatssekretär anblickte, zog er ein Gesicht, als stockte ihm der Atem. Er handelte in Vertretung und fühlte sich offensichtlich unsicher im Umgang mit selbstbewussten Frauen. Eine unvermutete Sauerstoffallergie hatte die Pressesprecherin befallen, und der Oberstaatssekretär, der hatte einspringen sollen, litt seit einigen Tagen an diffusen Koliken. Heutzutage galten alle Krankheiten als diffus. Und diffus blieb auch die Gesundheit.
»Fragen Sie mal nach, was los ist.«
Sofort entrollte der Staatssekretär ein Telefon, kontaktierte per Kurzwahl den Messdienstwagen und fragte die Techniker nach dem Stand der Dinge.
Fünfzehn Minuten Verspätung.
Der Ministerin drohten die Nerven zu zerfransen. Inzwischen fiel ihr das Geschiebe des Latexpenis lästig. Sie berührte am linken Ärmel des Nanoflux-Hosenanzugs einen kleinen weißen Punkt, und es kam Ruhe in ihren Unterleib, der Latexpenis schrumpfte, als hätte er seine Schuldigkeit getan. Mit dem Fingernagel tippte die Ministerin auf einen anderen, grünen Effektor. Unverzüglich diffundierte das Anzugfutter naturbelassenes Kamelienöl (das sie auf Anraten der Diplom-Kosmetologin ihres Vertrauens benutzte) auf ihre Haut und ergänzte es um die Wirkstoffe Rejuvenil und Revitarium.
Es half nichts. Die Ministerin verkrampfte sich innerlich und äußerlich immer stärker.
Achtzehn Minuten Verspätung.
Während der Staatssekretär telefonierte, dachte die Ministerin darüber nach, ihre Köchin anzurufen und zum Nachtisch Weichselkirschen mit Schokoüberzug zu bestellen, gelangte jedoch zu der Auffassung, damit vielleicht einen schlechten, nämlich den Eindruck der Verfressenheit zu erregen. Alternativ zog sie in Erwägung, sich vom Fahrer, einem älteren ADAC-Exfunktionär, der sich in einer Haltung gänzlicher Teilnahmslosigkeit, in der er dem Standbild eines Stoikers glich, neben dem Wagen ins Abwarten schickte, aus dem Bahnhof ein biologisch gereiftes Matjesfilet holen zu lassen, hegte aber Bedenken gegen den unvermeidlichen Teflon-Beigeschmack der Robot-SnackMaker-Fressalien.