Flüsterasphalt. Horst Pukallus

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Flüsterasphalt - Horst Pukallus

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bis er es schließlich mit einem satten »Ach so« beendete. »Es wird nicht mehr lange gebraucht«, erklärte er der Ministerin. »Die Inbetriebnahme des AP-Systems steht unmittelbar bevor.«

      Die Ministerin wölbte die Brauen. »Ach wirklich?!«

      Zwanzig Minuten Verspätung.

      Inzwischen gewannen Ungeduld und Nervosität beider Fahrzeuginsassen einen so hohen Grad, dass ihre Stressausdünstungen den Bordcomputer automatisch veranlassten, die Aromaspender zu aktivieren und Benignatoren, Aerosole der psychotropen Pharmakologie, zu verstäuben, vor allem Frustkiller wie Euphorasol, Altruisan und Felixol. Gleich darauf wurde die Ministerin von schönen Gefühlen geradezu überwältigt. Entspannung lockerte ihren Muskelapparat, ihre Atmung ging leichter, ihr wurde froh und licht zumute, ihr kam alles nicht mehr so schlimm vor. Sie hätte den Staatssekretär umarmen und den Fahrer befördern können. Doch zur Verhütung eben solcher Nebenwirkungen durften derartige Wohlgefühle nicht zum Dauerzustand werden. Darum stellte der Bordcomputer die Aerosolversprühung schon nach wenigen Sekunden ein.

      Da zum Glück beliebte Argus Panoptes – mit zweiundzwanzig Minuten Verspätung – endlich zu funktionieren. Auf dem Monitor erschien kurz das Pfauenschwanzlogo, dann eine virtuelle, dreidimensionale Rasterdarstellung des Hauptbahnhofs mitsamt Vorplatz. Zwischen den gelben Linien bewegten sich winzige Punkte und kleine Pünktchenkonglomerate in Rot, das Bahnhofpublikum. Auch auf der Großbildwand prunkte jetzt das AP-Logo.

      Die Idee zu Argus Panoptes beruhte auf dem legendären Radevormwalder Modell: Im Jahre 2007 begab sich der Bürgermeister der bis dahin der Welt unbekannten Ortschaft Radevormwald gemeinsam mit Ordnungsdienstlern auf die Straße, um durchs Verteilen von Bußgeldern das öffentliche Alkoholtrinken zu unterbinden. Diese Aktion hatte der Ministerin schon damals, als sie erst noch Ministerin hatte werden müssen, so vorzüglich gefallen, dass sie sich vornahm, das Gleiche eines Tages flächendeckend auf ganz Deutschland auszudehnen. Doch sie wusste, dass es sich empfahl, so etwas streng wissenschaftlich anzupacken. Erst die jüngsten Fortschritte auf dem Gebiet der Messtechnik hatten es möglich gemacht.

      Sobald Wellenlinien durchs 3D-Abbild des Bahnhofsgeländes wallten, öffnete der Staatssekretär seinen Wagenschlag, stieg mit einer gewissen Erleichterung aus und strebte hinüber zum Pulk der längst dösig gewordenen Medienvertreter. Die Wellen verwiesen auf Argus Panoptes’ laserspektroskopische Tätigkeit. Mit nickelfreien Computern vernetzte Sensortechnik-Infrarotlaserdetektoren erfassten per Molekülspektroskopie Alkoholgase, die Emissionen des Alkohols und des Suffs. Störsubstanzen wie Parfüm, Deodorants, Desinfektionsmittel und Plastiksahne konnte das AP-System einwandfrei unterscheiden. Es hatte eine Reichweite von 800 Metern.

      Während der Staatssekretär dem muffig gelaunten Medienklüngel eine kurze Einführung vortrug, wechselte das Rot mehrerer Pünktchen zu Blau. Die Teledetektoren hatten Verüber mit Alkohol korrespondierender Ordnungswidrigkeiten entdeckt. Aus Entrüstung schwollen der Ministerin von Neuem die Adern.

      Ohne Verzug leerten sich die Mannschaftswagen, hallten in Form markiger Kommandos dienstliche Anweisungen über den Bahnhofsvorplatz. Sicherheitsdienstler aller beteiligten Firmen und Ordnungsamtskräfte schwärmten aus, um der Übeltäter habhaft zu werden. Vorsichtshalber hatte man ihnen Herkulin injiziert, vielleicht sogar Rabiatin, aber Letzteres hieß die Ministerin nicht gut und mochte darüber auch gar nicht Bescheid wissen. Ihr genügte es, wenn man die Schluckspechte mittels Augenschein identifizierte und ihnen Bußgelder aufbrummte.

      Pünktlich beendete der Staatssekretär seine Darlegungen, gerade als sich die Großbildwand senkrecht in zwei Fenster teilte. Das AP-Logo schrumpfte in die linke Hälfte, auf der rechten Seite sah man mit einem Mal die Ministerin. Freundliche Glöckchenklänge, die an Weihnachten gemahnten, warben um die Aufmerksamkeit des Bahnhofspöbels. Viele Dutzend Konsumsklaven, arme ebenso wie reiche, hoben die Glubscher und glotzten hoffnungsvoll ins Große Maul der Staatsmacht.

      Die Rede der Ministerin kam vom Speicherkristall. Ihres Erachtens sprachen alle Argumente für die Konserve. Man konnte beim Aufzeichnen jedes »Äh«, jedes Stocken und alle verräterisch widersprüchlichen Gebärden einfach löschen oder korrigieren. Für Politiker, die nach wie vor live auftraten, fehlte der Ministerin seit Langem jegliches Verständnis. Außerdem hielt sie sich für ein bisschen mollig. Und Kabinettssitzungen fanden ohnehin bloß noch als Videokonferenzen statt.

      Klipp und klar redete die Ministerin Tacheles mit den Leuten: Am besten sollten sie gar keinen Alkohol mehr trinken. Wegen der Volksgesundheit. Aber künftig auf gar keinen Fall mehr in der Öffentlichkeit. Wegen des allgemeinen Anstands, des Vorbilds für die Kinder und der öffentlichen Sauberkeit. Zahllose Bürgerinnen und Bürger hätten es so gewünscht. (Diese Behauptung stimmte zwar nicht, die Ministerin jedoch wusste genau, was die Bürgerinnen und Bürger zu wünschen hatten.)

      Die Ministerin hörte der eigenen Ansprache gerne zu; sie flößte ihr Zufriedenheit ein. Ihre Worte klangen mütterlich-fürsorglich, als ginge es darum, Kindern die Folgen übertriebenen Verzehrs von Süßigkeiten zu erläutern. Auch das Bild behagte ihr: Dank der megamorphischen BeautyficationSmartware hatte sie Idealmaße und eine augenfällige Ähnlichkeit mit Kate Beckingsale, von der niemand mehr wusste, dass sie einmal eine Vampirin gespielt hatte. Schon von Kindheit an hatte die Ministerin gerne Vampirfilme gesehen. Leider hatte sie kürzlich bei Wikipedia über die Stamokap-Theorie der 70er und 80er Jahre recherchiert und dort Äußerungen über den parasitären Charakter des Staates gelesen. Da hatte sie sich auf seltsame, ja wohl auch absurde Weise ertappt gefühlt. Seither mochte sie von Vampiren nichts mehr wissen. Der bloße Gedanke daran verdarb ihr die Laune.

      Nach einem abschließenden Appell an Vernunft und Einsichtsfähigkeit der »lieben Mitbürgerinnen und -bürger« wich die Aufnahme einer Übersicht des pfiffig gestaffelten Bußgeldkatalogs für Alkohol-Ordnungswidrigkeiten. Um eine wirksame Abschreckung zu erreichen, hatte die Ministerin die Bußgelder recht hoch angesetzt.

      Von da an klappte alles wie am Schnürchen. Aufgrund ihrer Anordnung, ihr die krassesten Missetäter persönlich vorzuführen, erhielt die Ministerin kurz darauf eine SMS des Ordnungsamtseinsatzleiters, der zufolge das fein differenzierte AP-Bewertungsraster vier Alkoholextremisten erkannt hatte: Eine Paniktrinkerin, einen Amoktrinker, einen Gamma-Alkoholiker und einen Exzesstrinker. Letzterer hatte einen Blutalkoholspiegel, wie man ihn im Normalfall nur bei Leichen ermittelte. Sogar ein Raucher war gestellt worden. Ein dermaßen verantwortungsloses Subjekt wie einen Nikotinknecht indessen mochte die Ministerin sich nicht einmal von Weitem besehen.

      Durch das erneute Warten ergab sich nochmals eine gewisse Anspannung, die die Ministerin sehr stresste. Sie dachte an Brathähnchen mit Spinatfüllung und Kroketten. Und Aprikosenkompott.

      Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis die Ordnungsdienstler die vier VersagerInnen vorführten. Soeben hatte sich der Staatssekretär im Wagen wieder auf selbstverzwergende Weise in die Ecke gedrückt, der Fahrer hinterm Lenkrad Platz genommen, da wurden sie von acht bulligen Ordnungskräften neben der Limousine aufgereiht wie eine Gruppe von Delinquenten. Und aus der Sicht der Ministerin hatten sie tatsächlich einen präkriminellen Status.

      Aus Triefaugen stierte das Quartett des Grauens, die Bußgeldbescheide, die banalen Kassenzetteln glichen, schon in den zittrigen Säuferklauen, die stattliche Staatskarosse an. So ein Auto hatten sie bestimmt noch nie aus der Nähe gesehen. In dem Vorsatz, ihnen ein richtig sauschlechtes Gewissen zu machen, schaltete die Ministerin das Bordmikrofon ein. Die nanomultifunktionale Autoglasbeschichtung der Seitenscheibe zeigte die gleiche beautyficierte Version der Ministerin wie vorhin die Großbildwand.

      Die Ministerin hielt den völlig entgeisterten Alkoholwracks wegen ihres asozialen und krankenkassenfeindlichen Verhaltens eine gehörige Standpauke. »Sie müssen doch wissen«, sagte sie zum Schluss, »dass Alkoholkonsum Schuppenflechte, Verfolgungswahn, Gedächtnisschwund und vorzeitige Ejakulation verursacht.«

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