Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil
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„Keine Sau interessiert dieser Scheiß“, murmelte Pfeffer noch, als er das jungfräuliche, weiße Blatt in seine Olivetta spannte und anfing, den Artikel zu schreiben. „Und das sollen jetzt meine ersten Zeilen als Journalist sein? Als Redakteur? Das ist ja lächerlich!“ Erst mal eine HB. Er rauchte langsam und betrachtete das Bild des Rindes. Ja, ja, dochdoch. Er musste es zugeben: der Bulle hatte tatsächlich eine stattliche Größe. Auch seine ganze Statur war um so vieles beeindruckender, als die der anderen Bullen. Hm ... tja, könnte das und - aber was wäre wenn der ... aber dann hätte ja ... GENAU! Und da schoss es ihm ein: der ist gedopt! Aber klar doch! Zugepumpt mit Steroiden. Dicht bis unter die Hufe! Wie hatte er das übersehen können, es war doch sonnenklar! Alle anderen Tiere sahen einfach nur gewöhnlich aus, normal eben. Aber dieser Bulle war so wohlgediehen, wie man es sonst nur von den DDR-Schwimmern oder Kugelstoßerinnen aus China kennt. Dann sah sich Rick Pfeffer das Bild noch einmal genauer an. Lupe raus und die Glupschkorken bis zum Zerplatzen fokussiert. Da waren zunächst der Bulle und sein Besitzer. Gut. Der Bulle war groß und sehr kräftig. Also gedopt – ja. Aber der wird ja nun nicht allein in die Apotheke gegangen sein. Der Besitzer hielt in einer Hand die Trophäe, in der anderen die Leine, die am Nasenring des Bullen befestigt war. Er wirkte eigentlich ganz unverdächtig. Im Hintergrund die Juroren und ... da! Mit seinem überdimensionierten Leseglas konnte Pfeffer es sehen! Fast nicht zu erkennen, stand im Hintergrund ein Herr mittleren Alters, Haarkranz, Brille, dunkler Anzug. Dreiteiler, Seidenkrawatte. „Warum trägt der Typ einen Anzug?“, schoss es Pfeffer durch den Kopf. Alle waren in Arbeitskleidung, alle! Sie trugen Latzhosen oder ein ähnliches Gewand niedersächsischer Knechtsnatur, nur dieser eine Kerl trug einen Anzug. Aha. Schon mal verdächtig. Aber es beschlich Pfeffer auch der Gedanke, den Anzugträger schon irgendwo einmal gesehen zu haben. Nur wo?
Er nahm das Foto und ging zu Werner Bangemann, dem Redaktionsleiter. „Der Artikel muss nach hinten gestellt werden. Unbedingt“. Zeit, Zeit. Er rang nach Worten. Er schürzte vor, eine Spur zu haben, nur ein wenig Zeit, noch ein wenig mehr, die Fotos wären nichts geworden, und er müsse noch einmal zum Züchter, um ein vernünftiges Bild zu schießen. Bangemann knurrte zwar und kürzte seine Vergütung um zwei Pfennig pro Zeile, sagte dann aber so etwas wie „‘s interessiert doch eh kein Schwein!“
„Noch nicht“, dachte sich Pfeffer schelmisch grinsend, „noch nicht!“ Und huch – die Sache begann ihm langsam Spaß zu machen. War das jetzt dieses Jagdfieber, von dem alle immer gesprochen hatten? Mal sehen.
Er verließ das Verlagshaus und plötzlich fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wohin er nun eigentlich gehen sollte. „Nachgehen gleich Weggehen“, war sein erster Gedanke, als er das Bild oben eingesteckt hatte. Jetzt aber fragte er sich, was er damit eigentlich hatte sagen wollen. Was tut man, wenn man meint, jemanden zu erkennen, aber nicht weiß, wo man suchen soll?
„Oh Mann“, seufzte Pfeffer. „Eine Maschine müsste es geben. Eine Suchmaschine. Ständig verfügbar. Begriff rein, Ergebnis raus!“ Hm ..., während er so darüber nachdachte, fragte er sich, ob nicht „Findemaschine“, ein treffenderer Name wäre, als ihm auch schon die Sinnlosigkeit des gesamten Gedankens bewusst wurde. Zu viel Science Fiction. Eher so Lem oder Dick. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm erst einmal ein paar kräftige Züge. Schulterzucken, Stirnekratzen. Paff Paff und Asche abschnippen. Was soll’s schon. Er beschloss, zunächst zum Hof des Züchters zu fahren. Er hatte vom Verlag einen nagelneuen Opel Senator zur Verfügung gestellt bekommen, den er sich jedoch mit drei weiteren Kollegen teilen musste. Die saßen aber im Moment alle oben in den verrauchten Redaktionsräumen und so gehörte das stolze Flaggschiff der Opelfamilie hier und heute nur ihm allein. Er stieg ein, schloss die Tür mit dem angenehmen Schmatzen eines Neuwagens und fuhr los. Um diese Uhrzeit war nicht viel los auf den Straßen und so war er bereits wenig später am Hof des Züchters angekommen. Er begann natürlich sofort damit, das Gelände zu observieren.
So verging die Zeit und nachdem Enthüllungsjournalist Rick Pfeffer zwar noch nichts enthüllt, aber dafür zwei Stunden lang einen Acker mit Stall und Wohnhaus observiert hatte, entschloss er sich, abermals zu handeln. Wirkung vor Deckung. Nur so geht es! „Nur wer sich traut, bekommt die schönste Braut!“, hörte er noch seinen alten Vater vor sich hinzitieren, als er aus dem Senator stieg und auf das Haus zuging. Doch ach, sofort drang die Feuchtigkeit des vom ewigen Regen matschig gewordenen Bodens in seine nicht allzu teuren Schuhe und er spürte, wie die Kälte des Schlamms seine Füße umschloss. Das war äußerst unangenehm. Sein erstes Gehalt hatte er noch nicht bekommen und wenn jetzt die Schuhe hin waren, müsste er wohl morgen sockfuss zur Arbeit gehen. „Verdammt!“, rief er halblaut. Und dann lauter: „Verdammt, verdammt, verdammt!“, und drehte schon, um wieder in Richtung Opel Senator zu stelzen, als er plötzlich wie vom Blitz getroffen stehen blieb.
„Nein! Echt jetzt! NEIN! Es wird hier nicht aufgegeben wegen einem einzigen Paar Schuhe! Vater hat auch nicht aufgegeben damals im Osten, und was hatte der erst auszustehen. Das hier ist jetzt mein Krieg. Mein Krieg gegen Lüge und Rosstäuscherei, mein Krieg für Gerechtigkeit. Und für die Wahrheit.“
Pathetisch? Oh ja! Aber Pfeffer bemerkte, wie er sich bei diesen Worten, die er beinahe ein wenig zu laut gesagt hatte innerlich aufrichtete. Haltung meine Herren! Er war jetzt am Zug. Er war der einzig Übriggebliebene. Es gab sonst niemanden mehr, der sich dieser Sache hätte stellen können, und morgen war es vielleicht schon zu spät.
Er drehte also erneut um und ging nun – entschlossen und zielgerichtet – auf das Hauptgebäude des Hofes zu und klopfte. Es wurde geöffnet und ihm stockte der Atem.
Niemand anderes als der Anzugträger vom Foto öffnete ihm.
„Ja bitte?“
Pfeffer starrte den Anzugträger ungläubig an. Ostdialekt! Erwischt!
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte der nur. Pfeffer starrte weiter. Er konnte es nicht fassen. Es verging eine Weile. Dann wieder der alte Anzugträger: „Ja, was wolln’se denn, Junge?“ Wieder nichts. Dann rief der Anzugträger leicht nach hinten gewandt: „MATTHIAS! Komm’ mal an die Tür!“, und wieder zu Pfeffer: „Warten ‘se mal kurz hier.“ Bums, und zu war die Tür. Pfeffer verstand die Welt nicht mehr. Nur Sekunden später öffnete sich die Tür erneut und vor dem Journalisten Richard genannt Rick Pfeffer stand der Züchter, und der war ebenso einschüchternd wie sein preisgekrönter Bulle.
„Ja?“, fragte dieser, und jetzt konnte Pfeffer antworten. „Pfeffer, vom Weser-Land-Blatt. Ich war gestern auf der Preisverleihung.“
„Ja, ach so, Mensch entschuldigen Sie bitte meinen alten Vater, ich habe ihm schon hundertmal gesagt, er soll nicht zur Tür gehen!“, und ganz leise fügte er hinzu „der hört ja fast nix mehr, wissen Sie? Aber die Türklingel, die hört er noch. Weiß der Geier warum.“
Das Eis war gebrochen, jetzt konnte es losgehen. Die Fragen sprudelten nur so aus Pfeffer heraus und eine lag auf der Hand.
„Wenn der nichts mehr hört, warum flüstern Sie dann?“
„Auch wieder wahr.“ Der Züchter runzelte die Stirn. Verunsicherung. Ha! Jetzt oder nie, Pfeffer musste in die Offensive gehen. Wirkung vor Deckung.
„Ihr, ... also der Bulle, ... der war ja wirklich ziemlich groß, nicht wahr!“, begann er sein Verhör mit dem ahnungslosen Delinquenten.
„Ja, das kann man wohl sagen“, schoss es aus dem Züchter heraus. „Den haben wir ganz ordentlich hinbekommen, was? Aufgepäppelt. Das macht die gute Luft hier und das saftige Gras. Alles hundert Prozent biologisch. Außerdem die nette Gesellschaft nicht zu vergessen“, schmitzte der Züchter und zeigte auf die weidenden Kühe neben dem Haus.
„Gute Luft am Arsch“,