X-World. Jörg Arndt

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X-World - Jörg Arndt

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      Yannick hatte geschlafen wie ein Stein und fühlte sich auch so: schwer, unbeweglich, benommen. Mühsam versuchte er, seine Erinnerungen zu sortieren und von den verworrenen Träumen zu trennen, die noch in ihm nachhallten. Betty … die Eisenbahnbrücke … Er hatte schon halb auf dem Geländer gestanden, als er abgerutscht war und sich sein linkes Knie angeschlagen hatte.

      Vorsichtig betastete er die lädierte Kniescheibe. Sie tat fürchterlich weh, und er fluchte in sich hinein. Nicht einmal einen anständigen Selbstmord brachte er zustande! Aber vielleicht war es auch gut so. Jetzt, nach ein paar Stunden Schlaf, wirkte seine Situation nicht mehr ganz so aussichtslos wie vorher.

      Er sah auf die Uhr. Es war bereits später Nachmittag. In gut einer Stunde öffnete das Bit & Bytes. Er musste dorthin. Er musste mit Lutz reden, musste wissen, wie es nun weitergehen sollte.

      Mühsam wälzte er sich aus dem Bett und schlurfte ins Badezimmer, das er mit seiner Mutter teilte. Sie bewohnten dieselbe Wohnung, aber beide hatten gelernt, sich aus dem Leben des anderen herauszuhalten. Yannick schätzte diese stillschweigende Übereinkunft.

      Als er vor dem Spiegelschrank stand und sein Gesicht betrachtete, erschrak er. Es war eingefallen und blass; unter den Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Mechanisch wusch er sich und putzte seine Zähne, wobei er sein Spiegelbild nicht aus den Augen ließ. Nach einiger Zeit wusste er nicht mehr, ob er derjenige war, der vor dem Spiegel stand und hineinsah, oder ob er nicht in Wirklichkeit aus dem Spiegel hinaussah. Das passierte ihm häufiger und hatte ihn schon vor langer Zeit zu der Überzeugung geführt, dass sich die Realität von der virtuellen Welt nur geringfügig unterscheidet. Je länger er lebte und je mehr Zeit er am Computer verbrachte, desto schwerer fiel es ihm, eine klare Trennlinie zwischen diesen beiden Welten zu ziehen. Die Begegnung mit Betty hatte die Sache nicht gerade vereinfacht …

      Er hatte keinen Hunger, obwohl er nicht sagen konnte, wann er zuletzt etwas gegessen hatte. So zog er sich rasch an und verließ das Haus.

      Das Bit & Bytes hatte bereits geöffnet, als er ankam. Ein paar Kids saßen an den Rechnern und spielten. Von Lutz keine Spur. Hinter dem Tresen stand Tanja. Sie war neu hier; Lutz hatte sie kurz nach den eGames eingestellt, weil der Laden danach immer so voll war. Inzwischen hatte sich der Andrang wieder gelegt, aber Tanja war geblieben. Sie passte gut hierher. Hardware interessierte sie nicht besonders, aber als Gamerin war sie spitze. Sie hatte eine ganze Weile zu den Top 50 bei „World of Warcraft“ gehört.

      „Grüß dich, Yannick!“

      „Hallo Tanja! Ist Lutz da?“

      „Nein, er wollte für ein paar Tage weg. Verwandte besuchen oder so, keine Ahnung. Willst du einen Kaffee? Du siehst aus, als könntest du einen gebrauchen!“

      Yannick nickte zerstreut. Wie konnte Lutz jetzt wegfahren? Solange sie sich kannten, hatte er Berlin noch nie verlassen. Er regelte die Dinge lieber online, als aus dem Haus zu gehen. Und von Verwandten hatte er nie erzählt. Er war nicht der Typ für Familie.

      Tanja schob ihm einen Becher Kaffee über den Tresen. Abwesend nahm Yannick einen Schluck. Wie sollte es nun weitergehen? Er hatte nicht die leiseste Ahnung.

      ****

      Ron holte tief Luft, bevor er die Glastür aufstieß. Er fühlte sich wie damals, kurz vor seinem ersten (und letzten) Kopfsprung vom Fünfmeterbrett.

      Er trat ein und befand sich schlagartig mitten in einem bunten Treiben. Sein neues Team war gerade dabei, sich einzurichten. Tische wurden gerückt, Arbeitsplätze aufgebaut, Netzwerkkabel ausgerollt. Ein junger Mann mit kurzen Haaren und einer runden Brille verkabelte konzentriert einen Serverschrank. Niemand schien sich sonderlich für seine Ankunft zu interessieren, die in dem allgemeinen Durcheinander schlicht unbemerkt blieb.

      Ron stand mit seinem Koffer an der Tür und blickte unentschlossen umher. Zu seiner Erleichterung hörte er plötzlich die vertraute Stimme von Dr. Fleischmann, der aus einem Nebenraum kam und mit ausgebreiteten Armen auf ihn zueilte. Ron lächelte ihm entgegen.

      „Herr Schäfer, wie schön, Sie zu sehen! Mir ist leider erst heute Morgen aufgefallen, dass wir gar nicht über Ihre Ankunftszeit gesprochen haben, sonst hätte ich Sie selbstverständlich abholen lassen!“

      Er ergriff Rons Rechte mit beiden Händen und schüttelte sie herzlich.

      „Ich hoffe sehr, dass diese Leute wissen, was sie da tun, denn ich habe nicht die leiseste Ahnung davon“, bekannte er im Verschwörerton. Dann wandte er sich um und klatschte in die Hände.

      „Ich bitte um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit!“ Augenblicklich stockte jede Bewegung, die Gespräche verstummten, und alle blickten erwartungsvoll in seine Richtung.

      „Ich freue mich, Ihnen nun Ihren neuen Chef vorstellen zu können“, sagte Gerhardt Fleischmann. „Bitte begrüßen Sie Herrn Ron Schäfer!“

      Applaus brandete auf, und im Nu waren sie von freundlichen Menschen umringt, die sich danach drängten, Ron die Hand zu schütteln. Er sah keine Chance, die vielen Namen zu behalten, die ihm bei dieser Gelegenheit genannt wurden. Alle in meinem Alter, dachte er. Kaum jemand über 30. Die meisten Männer. Vier Frauen waren darunter.

      Dann erhob Gerhardt Fleischmann erneut seine Stimme. „Ich denke, das sollte erst einmal genügen. Sie werden später noch jede Menge Zeit haben, sich kennenzulernen. Was auch immer Sie eben getrieben haben – machen Sie jetzt damit weiter!“

      Ein freundliches Gelächter war zu hören, und der Kreis lichtete sich.

      „Nun zeige ich Ihnen erst einmal Ihr Büro“, sagte er, während er die Tür öffnete, aus der er gekommen war. Ron nickte befriedigt, als er eintrat. Es war groß genug, um vernünftig darin zu arbeiten und kleinere Besprechungen abzuhalten; die Einrichtung war zweckmäßig und wirkte weder billig noch protzig.

      „Ich würde sagen, Sie haben meinen Geschmack genau getroffen.“

      „Das freut mich zu hören, Herr Schäfer, dann also: auf gute Zusammenarbeit!“

      ****

      Das Abendgeschäft lief gerade erst an, als Lutz Singer das gepflegte Restaurant in der Nähe der Frankfurter Oper betrat. Dies war einer der seltenen Momente, in denen er Anzug und Krawatte trug, was ihn erstaunlich seriös wirken ließ. Er blickte sich suchend um, bis er einen schlanken jungen Asiaten im Maßanzug sichtete, der an einem der Tische saß und las. Vor ihm stand ein Glas Mineralwasser. Ohne Umschweife ging Lutz auf ihn zu.

      „Herr Lee, nehme ich an?“

      Der Angesprochene sah auf. „So ist es. Setzen sie sich bitte, Herr Singer. Wie war die Reise?“

      Es folgten einige Minuten höflichen Smalltalks, bevor der Asiate endlich das Gespräch auf den Anlass ihres Treffens lenkte.

      „Offengestanden war ich von Ihrem Anruf ziemlich überrascht“, sagte er, „Sie sprachen von Dingen, die nur wenigen Führungskräften unserer Firma bekannt sind. Darf ich fragen, woher Sie Ihre Informationen beziehen?“

      Lutz erwiderte das höfliche Lächeln seines Gesprächspartners.

      „Sicher dürfen Sie fragen. Aber Sie müssen verstehen, dass ich meine Quellen nicht preisgeben kann. Als Sicherheitsberater habe ich Geheimnisse zu bewahren. Wichtiger ist zunächst die Frage, ob wir auf derselben Seite stehen.“

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