X-World. Jörg Arndt
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Betty sah ihn nachdenklich an. „Aber nur, wenn du auch davon isst“, forderte sie.
Unsicher schielte Yannick zu der Schlange hinüber. Sie nickte unmerklich.
„Na gut“, sagte er schließlich und schob seine Freundin sanft in die Richtung des Baumes.
Langsam ging Betty hinüber und streckte ihre Hand aus, wobei sie sichtlich bemüht war, die große Schlange nicht zu berühren, die ihr aufmerksam zusah. Noch einmal hielt das Mädchen inne und drehte sich mit einem fragenden Blick zu Yannick um, der ihr energisch zunickte. Endlich gab sie sich einen Ruck und pflückte die Frucht. Sie sprang zwei Schritte zurück, weg von der Schlange, und schnupperte misstrauisch an ihrer Beute.
„Riecht gut!“, stellte sie fest und biss herzhaft hinein. Die Frucht hatte helles, festes Fruchtfleisch, fast wie ein Apfel, doch es fehlten die Kerne darin. Sie reichte ihrem Freund den Rest. „Jetzt bist du dran“, sagte sie ernst. Ohne zu zögern, biss er hinein. Dann sahen sich Betty und Yannick an und warteten darauf, dass irgendetwas Außergewöhnliches passierte.
Den Triumphschrei von Lutz konnten sie nicht hören; er hatte sein Mikrofon wohlweislich nicht angeschlossen. Sein Schlangen-Avatar verständigte sich ausschließlich per Zeichensprache. Der Jubel war berechtigt, denn nun hatte er vollen Zugriff auf das System. Ohne große Umschweife begann er mit dem Download, wozu ihm das Gerät diente, das Yannick in die Rückseite des Servers gesteckt hatte – es stellte eine Datenverbindung über das Mobilfunknetz her.
Es dauerte eine gewisse Zeit, bis Yannick und Betty die atmosphärische Veränderung in ihrer Umgebung wahrnahmen, aber sie verstärkte sich immer mehr und war schließlich so deutlich zu spüren wie ein kalter Zugwind. Unvermittelt brach Betty in Tränen aus und stürzte davon. Ratlos sah Yannick ihr hinterher. So hatte er sie noch nie erlebt. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen, dann ging er ihr nach. Als er sie fand, war sie damit beschäftigt, Gräser und Blätter zu flechten und damit ihre Blöße zu bedecken.
„Was machst du da?“, fragte er betroffen. „Dir hat es doch bisher nichts ausgemacht, nackt zu sein?“
Sie sah ihn verlegen an. „Ich weiß auch nicht“, meinte sie schließlich. „Plötzlich fühle ich mich so – beobachtet.“
Und dann spürte Yannick es auch. Es fühlte sich an, als stünde er splitterfasernackt in einem beleuchteten Schaufenster mitten in der Innenstadt. Unwillkürlich hielt er sich die Hände vor seinen Intimbereich.
Betty reichte ihm einen geflochtenen Lendenschurz. „Hier, nimm das“, sagte sie. Er erkannte diese Handarbeit wieder: Sie hatte ursprünglich eine Decke werden sollen, mit der Betty vor einigen Tagen begonnen hatte.
Ungeschickt schlang er sich das improvisierte Kleidungsstück um die Hüfte, aber das Gefühl der Beobachtung wollte nicht weichen. Panisch sah er sich um.
„Wir sollten uns verstecken“, sagte er.
****
Mittlerweile hatte Ron seine Telefongespräche beendet, die Blumen gegossen, den Kühlschrank geputzt und alle Papiere auf dem Schreibtisch sortiert. Er blickte auf die Uhr. Die Stunde, die er Yannick und Betty zugestanden hatte, war längst überschritten, aber es fiel ihm schwer, das Mädchen zu eliminieren, auch wenn sie nur ein Programm war. Es steckte einfach zu viel Menschliches in ihr.
Komm schon, du musst es tun, es ist das Beste für Yannick, und du weißt es, rief er sich zur Ordnung – mit nur mäßigem Erfolg allerdings. Lustlos schlurfte er zu seinem Terminal. Auf seinen Befehl hin glommen die abgeschalteten Monitore auf. Automatisch überflog er die Anzeigen – da durchfuhr es ihn plötzlich, als hätte ihm jemand einen Eimer eiskaltes Wasser über den Rücken gegossen.
Irgendetwas musste passiert sein. Die Firewall war ausgeschaltet. Wie konnte das sein?
Ihm fiel nur eine Möglichkeit ein, wie Yannick sie deaktivieren konnte – mit Hilfe der spielinternen Systemsteuerung, dem verbotenen Baum, den er all die Wochen lang nicht angerührt hatte.
Ron schüttelte ungläubig den Kopf. Das ergab keinen Sinn.
Vielleicht ist es ja eine Falschmeldung, dachte er, ohne selbst allzu sehr daran zu glauben. Er rief die Logdateien auf, um zu überprüfen, was in der letzten Stunde geschehen war, aber nichts passierte. Das System ignorierte seinen Befehl. Ungläubig starrte Ron auf die Tastatur, die ihm plötzlich fremd vorkam. Was war hier los?
Diese Firewall war im Prinzip eine überflüssige Schutzmaßnahme, denn der Rechner verfügte über die beste Absicherung, die es gab: Er hatte keine Verbindung zum Internet. Dennoch sprach alles dafür, dass jemand in das System eingedrungen war. Yannick musste etwas damit zu tun haben, wahrscheinlich irgendein verzweifelter Versuch, Betty zu retten. Er hätte es voraussehen müssen.
Er blickte auf den Körper des jungen Mannes, der da mit Cyberhelm, Gamaschen und Handschuhen auf dem Sessel lag und sich rhythmisch bewegte, als tanze er zu einer Musik, die außer ihm niemand hören konnte. Ron widerstand dem Impuls, ihm den Helm vom Kopf zu reißen und ihn zur Rede zu stellen. Wenn tatsächlich jemand die Kontrolle über das System übernommen hatte, wie er befürchtete, dann war Yannick sein letzter Fuß in der Tür. Sobald er sich ausloggte, kam möglicherweise niemand mehr hinein. Ron überlegte. Schließlich fiel sein Blick auf den „Cyberstar 2“, der in einer Ecke seines Arbeitszimmers lag.
Ja, das könnte funktionieren. Er würde versuchen, online zu gehen und Yannick zur Rede zu stellen. Ron hatte seinen Avatar noch nicht konvertiert und würde in der neuen Schöpfung nur als eine Art Lichtgestalt erscheinen, aber das war ihm jetzt egal. Er musste wissen, was vorgefallen war.
In X-World war der Abend angebrochen, und eine angenehme Kühle lag über dem Garten. Betty und Yannick saßen Händchen haltend auf einem Baumstamm. Sie schwiegen bedrückt. Keiner von ihnen wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Yannick nahm als Erster die Bewegung hinter den Büschen wahr.
„Schnell“, flüsterte er dem Mädchen zu, „versteck‘ dich!“
Doch es war zu spät. Leuchtend und groß stand Ron Schäfer vor ihnen. „Was hast du getan?“, herrschte er Yannick mit Donnerstimme an. „Wieso warst du an dem Baum, den ich dir verboten hatte?“
Yannick begann zu stammeln. „Sie hat als Erste gegessen!“, sagte er hastig. Dann fing er sich. Sein Rücken wurde gerade. „Du hast sie doch programmiert, du musst doch wissen, warum sie so etwas tut“, fügte er patzig hinzu. Ein eisiger Blick von Ron brachte ihn zum Schweigen.
„Nun?“, fragte er Betty.
Sie lag zusammengesunken und ängstlich vor seinen Füßen. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre Stimme klang verweint. „Da war eine Schlange …“, sagte sie zaghaft.
„In meinem Garten gibt es keine Schlangen!“, brüllte Ron. „Ich hasse Schlangen!“
Plötzlich dämmerte ihm etwas. Wieder wandte er sich an Yannick.
„Sag mir die Wahrheit. Woher kennst du Lutz?“
Der Angesprochene fuhr so sehr zusammen, dass jedes Leugnen zwecklos war.
„Aus der Kneipe …“, stotterte er, „der Wettbewerb … aber wieso … woher weißt du …“
„Ich habe mal mit ihm zusammengearbeitet“, sagte Ron, „die Schlange ist sein Markenzeichen. ‚Andere