Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
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Aber der umfangreiche, schwere, nussbaumfurnierte Schreibtisch, der sonst immer die Barriere zwischen Hörern der Volkshochschule und der Sekretärin war, hatte seine Funktion nicht erfüllt: eine Barriere zu sein. Bereits vor der Türe bis zum Schreibmaschinentisch in der Ecke hinter dem Schreibtisch war eine Brücke entstanden, die zwar nicht sichtbar war, aber mit allen Fasern von Uschi spürbar. Warum war auf einmal im Zimmer alles so anders?
Mit klopfendem Herzen und feuchtkalten Fingern setzte sie sich wieder an ihre Schreibmaschine und wollte weiterarbeiten. Bereits nach den ersten Buchstaben hatte sie sich vertippt und holte innerlich brummend einen Radiergummi aus der Schublade, um den Fehler zu korrigieren. Übertippen konnte ihr Chef überhaupt nicht leiden und so machte sie sich an die Beseitigung ihres Tippfehlers. Das war bei fünf Durchschlägen immer sehr zeitraubend und arbeitsaufwendig. Aber was half’s. Sie hatte sich eben für einen kleinen Augenblick nicht richtig konzentriert und die Strafe war sofort gefolgt.
Der Radiergummi musste bis zum Dienstschluss noch häufiger vorgeholt werden. Es ging mit dem Abschreiben überhaupt nicht mehr so flink wie sonst. Die Gedanken konnten sich einfach nicht konzentrieren. Wie freute sie sich schon auf den Feierabend. Und doch: sie musste ja erst ihre Arbeit fertig haben, sonst gab es mürrische Blicke vom Chef.
Fertig! Die zehn Seiten mit den Durchschlägen lagen gehäufelt vor ihr und mussten nur noch sortiert und geklammert werden. Auch das wurde noch vor Feierabend geschafft – immer mit einem ängstlichen Blick auf die Uhr, ob die Zeit dafür reichte.
Pünktlich auf die Minute betrat der Lockenkopf Gerd das Sekretariat und relativ schnell war die Arbeit für seine Schule erledigt. Nun blickten sich die beiden scheu an: Gerd, weil er nicht wusste, ob Uschi zur Kinoeinladung Ja sagen und Uschi, weil sie nicht zu hoffen wagte, dass Gerd die Einladung tatsächlich wahr machen würde. Doch völlig unkompliziert fragte Gerd: „Welchen Film wollen wir uns ansehen? Wann hast du Zeit?“ So einfach war das also mit dem Verabreden! Doch Gerd hatte schon alles vorher abgeklärt. Seine Gedanken bewegten sich in der Richtung, dass es nicht ein x-beliebiger Film sein dürfte, sondern für Uschi musste es schon etwas Niveauvolles, Kulturelles sein und kein Fünf-Groschen-Film. Sein Angebot war daher verlockend: „Am Dienstag wird im Capitol ‚Van Gogh‘ gespielt. Interessiert dich so was?“
Uschi war verwundert. Dieser lebensfrohe, immer zu Späßen aufgelegte Junge sieht sich ‚Van Gogh‘ an? Das war ein völlig neuer Aspekt an ihm, den kannte sie überhaupt noch nicht. Aber diese Schlussfolgerung erfüllte sie sogleich auch mit etwas Stolz: Er war eben doch anders als die anderen Jungens!
Zuhause angekommen erzählte ich bewusst so fast nebenbei, dass ich am Dienstag ins Kino gehe. „Van Gogh“ wird gespielt. Sofort horchte Dorchen auf: „Mit wem gehst du denn ins Kino, du bist doch bisher nicht alleine fortgegangen?“
Nun musste ich Farbe bekennen. Meine Hände waren sofort wieder eiskalt, mein Herz schlug für mich hörbar laut, als meine Antwort war: „Mit Gerd, der hat mit mir zusammen in der Volkshochschule die 10. Klasse abgeschlossen. Er hat mich zum Dank dafür eingeladen, dass ich ihm bei den Hausaufgaben geholfen habe.“ Dorchen bohrte weiter: „Wann ist denn die Vorstellung? Wer bezahlt die Karten? Lass dich bloß nicht wegen einer Kinokarte einfangen, so fängt es immer an!“
So, die Hürde war geschafft. Meine Schwester wusste jetzt Bescheid, dass ich am Dienstag nach der Arbeit nicht gleich nach Hause kommen würde. Das war erst einmal das Wichtigste für mich. Eigentlich hatte mich die Bemerkung „So fängt es immer an“ gar nicht geängstigt. Im Gegenteil – ich wünschte es mir direkt. Schließlich war ich ja schon 22 Jahre alt. Um mich herum waren die Mädchen in dem Alter bereits verheiratet und hatten Kinder! Doch meine innere Stimme sagte mir auch, dass die Verbindung mit einem jungen Mann mit Vorsicht zu genießen sei.
Meine ersten Kontakte mit einem jungen Mann waren nach fast 4 Jahren kläglich gescheitert. Meine Mutti lag mir damals immer in den Ohren: „Das ist kein Mann für dich – der sieht dir ja nicht einmal richtig in die Augen! Das ist nur ein Freund, aber kein Mann, den man ein ganzes Leben lang lieben muss! Der nimmt dich nur als Zeitvertreib, wenn er gerade einmal nichts Besseres zu tun hat!“ usw. Doch wer hört schon auf seine Mutter, wenn er die ersten zarten Bande mit einem jungen Mann bzw. mit einer jungen Frau hat? Ich klammerte mich an diese ersten zarten Gefühle und glaubte, dass sie die Erfüllung des Lebens seien. Und so kam, was kommen musste – wir trennten uns ohne viel Umstände, obwohl die Verlobungsringe hart erkämpft beschafft worden waren. Um die goldenen Ringe tat es mir leid, denn so schnell bekam man ja keine neuen in der DDR. Aber das war Vergangenheit.
In den Romanen hatte ich so oft gelesen, wie schön die Liebe ist, wie unvergleichlich die Gefühle und Erlebnisse sind. Ich wünschte mir auch diese starken, nie vergehenden Leidenschaften, die so oft beschriebenen heißen Küsse und Sehnsucht zueinander. So schön sollte mein Leben auch werden!
Und mein Herz sagte mir eindeutig: Jetzt oder nie! Der ist es! Kein anderer soll es sein! Aber eigentlich war ich zu diesen konkreten Gedanken gar nicht fähig – ich war einfach nur glücklich!
Schon die Einladung hatte mein Leben total verändert: Der Himmel war freundlicher, die Menschen um mich herum netter, die Blumen blühten schöner, alles war wie neu. Und doch konnte ich nicht sagen, warum ich alles anders empfand. Mich umgab auf einmal eine Welt voller Jubel und Freude.
Das Wochenende bei Mutti wollte nicht vorübergehen. Ich hing meinen Gedanken nach und wusste nur eins: Ich freue mich unbändig auf diesen Kinobesuch! In diese rosa-roten Gedanken hinein hörte ich die Frage meiner Mutti: „Was hast du denn heute, du bist ja so still. Bist du krank?“ Das fehlte mir jetzt noch, dass ich meine tiefsten Geheimnisse erzählen sollte. Doch ich brauchte nicht zu antworten, das übernahm meine Schwester: „Die ist im 7. Himmel, weil sie mit einem Gerd am Dienstag ins Kino geht!“ So, nun war es raus! Meine himmelhoch-jauchzenden Gefühle lagen jetzt ausgebreitet auf dem Esstisch – zur Allgemeinheit verkommen -zur Alltäglichkeit herabgewürdigt! Und doch war ich irgendwie zufrieden, denn nun wusste ja Mutti, dass es einen – meinen – Gerd gab. Gekonnt gleichgültig legte ich jedoch mein Buch zur Seite und gab noch – wie gelangweilt – die Zusatzinformation: „Weil ich ihm bei den Schularbeiten geholfen habe." Ich wusste nur zu gut, dass diese gute Tat von meiner Mutti jederzeit akzeptiert wurde, denn es gab nichts Wichtigeres als einen ordentlichen Schulabschluss mit guten Zensuren. Doch ihr Interesse hatte ich nun doch geweckt: „In welche Schule geht er denn noch, was macht er denn für einen Abschluss? Woher kennst du ihn denn?“ Oh, das waren unbeabsichtigt viele Fragen. Doch meine gespielt gleichgültigen Antworten ließen keine weiteren Fragen mehr offen: „Ich habe mit ihm in einer Klasse gesessen, als ich die Mittlere Reife gemacht habe und er ist jetzt im Institut zur Ausbildung von Ingenieurpädagogen. Nach drei Jahren macht er den Abschluss als Lehrmeister.“ Das saß. Das war ein toller Name der Schule. Das musste ein intelligentes Bürschchen sein! Es kamen keine weiteren Fragen und ich verabschiedete mich wieder in meine Traumwelt des Buches.
Der Kinobesuch wurde nach meinem Empfinden mit allen Raffinessen vorbereitet: Sonntagsschuhe mit passendem Kleid, gewaschene Haare (zu dieser Zeit war der Haarknoten aktuell, den ich natürlich auch hatte), ein extra Handtäschchen hatte ich morgens eingepackt und den üblichen Kosmetikaufwand betrieben, der etwas zeitaufwendiger ausgefallen war.
So vorbereitet saß ich herzklopfend an meinem Schreibtisch und verwünschte den Sekundenzeiger. Von wegen: dem Glücklichen schlägt keine Stunde! Das kann kein Verliebter gesagt haben! Die Zeit verging schleichend.
Ob er wohl pünktlich kommt? Hat er mich vielleicht schon vergessen? Bin ich hübsch genug?