Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
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Und trotzdem war meine Information: „Das sind nette Leute, die kann man richtig gern haben. Ich habe den Eindruck, dass sie mich auch mögen.“
Am nächsten Tag holte mich Gerd wieder von der Arbeit ab. Allmählich hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, denn dadurch blieb ihm ja nicht viel Zeit zum Lernen. Aber er war der Meinung, dass er mir unbedingt etwas mitteilen müsse. Er hatte nämlich im Institut in der Bibliothek im „Meyers Neues Lexikon“, Ausgabe 1962, über meinen Geburtsort nachgelesen: Ein Königsberg war nicht drin, sondern nur der Ort Kaliningrad mit folgenden Informationen: Bis 1946 Königsberg. 15.100 qkm, … 1961 664.000 Einwohner … an der Mündung der Pregolja (Pregel) in der Ka.-bucht (Frisches Haff an der Ostsee), durch Seekanal mit Vorhafen Baltisk verbunden.
Er steckte sein Zettelchen mit diesen Notizen in die Hosentasche und zeigte sich immer noch etwas enttäuscht – war das doch so ein schöner Name einer Stadt und es stand so wenig im Lexikon. An seiner Reaktion merkte ich, dass er ganz andere Informationen erhofft hatte. Aber ich konnte ihm auch keine geben. Jedoch allein dadurch, dass er im Lexikon nachgelesen hatte, wurde mir bewusst, dass ihn alles, was um mich herum war, interessierte. Oder betrachtete er mich als eine Art Exot, weil ich nun einmal nicht in der jetzigen DDR geboren war? Es gab doch hier viele Umsiedler, das hätte ihn doch gar nicht so tief bewegen dürfen. Oder war es die Situation, dass er – wohl behütet – auch jünger an Jahren, den Krieg nie bewusst erlebt hatte? Betrachtete er mich als Beispiel einer lebendigen Geschichte?
Aber eigentlich waren diese Fragen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war, dass wir uns gern hatten und uns äußerst gut verstanden.
Nur eine Tatsache hatte ich ihm bisher verschwiegen: meine Eltern waren tief gläubig und hatten uns auch in diesem Sinne erzogen. Mutti mahnte uns immer an, nur mit einem Partner eine Verbindung zu planen, der auch gläubig war – sonst liege kein Segen darauf. Bisher hatte ich dieses Thema der kirchlichen Erziehung nie angesprochen und Gerd war auf diese Problematik nie gekommen. (Zum Kaffeetrinken bei seinen Eltern war mir sofort aufgefallen, dass vor dem Essen kein Gebet gesprochen worden war.) Wie sollte ich das nur Gerd beibringen? Ich hatte Angst, dass er für unseren Glauben kein Verständnis haben könnte. Würde er mich dann trotzdem noch gern haben? Allmählich beschlich mich Angst, wenn ich an dieses Thema dachte, befürchtete ich doch, dass sich dann unsere Verbindung lösen könnte. Darum überließ ich diese Problematik erst einmal dem Selbstlauf und genoss die augenblickliche Situation.
In der DDR hatte sich, das sei zum allgemeinen Verständnis gesagt, die Ideologie des Materialismus als Staatslehre durchgesetzt. Damit war verbunden, dass das In-die-Kirche-gehen unmodern geworden war, ja geradezu als altmodisch und überlebt dargestellt wurde. Darum lenkte auch der Staat die Erziehung der Jugendlichen im Geiste des Marxismus-Leninismus, forcierte die Feiern der Jugendweihen und zog mit allerhand Aktivitäten und Fördermaßnahmen die Jugendlichen an sich.
Dass Gerd nicht konfirmiert worden war, sondern über die Feier der Jugendweihe berichtet hatte, machte mir nur allzu deutlich bewusst, dass er nicht Mitglied einer Kirche oder Kirchengemeinde war. Daraus ließ sich leicht schlussfolgern, dass er auch nicht die Anforderungen meiner Eltern in den Glaubensfragen erfüllte, also aus der Sicht meiner Mutti für mich als Mann nicht in Frage kam.
Und so kam, was kommen musste: eine kleine Katastrophe.
Mutti war es nicht mehr zu verheimlichen, dass alle meine Gedanken nur noch um Gerd kreisten. So kam ich auch nicht mit der nächst möglichen Waldbahn am Sonnabend nach Hause, sondern erst mit der übernächsten, die Gespräche Zuhause interessierten mich nicht mehr – ich beteiligte mich also nur in Spurenelementen daran, war schweigsam, erledigte die kleinen Hausarbeiten, die am Wochenende Zuhause auf uns warteten, las viel, ging brav am Sonntag mit in die Kirche, sang im Kirchenchor mit, verhielt mich für meine Begriffe ruhig und erwachsen und war doch wiederum manchmal spontan, unruhig und gereizt. Mutti, die uns immer interessiert und liebevoll beobachtete, stellte nach mehreren Wochenenden unvermutet an mich die Frage: „Na, du hast wohl den Gerd sehr gern? Du hast dich so verändert. Erzähle mir doch etwas über ihn.“
Wo sollte ich anfangen, was war für meine Mutti von Interesse? Ich druckste herum. „Na, wie sieht er denn aus“, war die diplomatische Frage von Mutti. Damit war der Bann gebrochen. „Ach, Mutti, er ist wunderschön. Er hat dunkle Locken, ist einen Kopf größer als ich, schlank, sportlich, ganz Kavalier, immer zu Späßen aufgelegt, aber man kann sich auch wunderbar über ernste Themen mit ihm unterhalten. Er hat die Facharbeiterausbildung als Dreher, die er im VEB Getriebewerk Gotha gemacht hat, wo auch sein Vater als Dreher arbeitet. Und du weißt ja, dass er mit mir in der Volkshochschule war. Seine Mutti ist Postfrau. Seine Eltern sind sehr nett; ich habe dir ja schon erzählt, dass ich dort zum Kaffeetrinken eingeladen war.“ Nun sprudelte es nur so aus mir heraus, und ich war glücklich, endlich einmal so richtig ausführlich darüber sprechen zu können, denn Geheimnisse konnten und wollten wir nicht lange vor unserer Mutti verbergen.
Sie merkte auch mit dem Instinkt einer Mutti, dass diese Situation einer Klärung bedurfte. Und so war es nach der Unterhaltung wie selbstverständlich, dass sie sagte: „Na, dann lade doch deinen Gerd zum Sonntagnachmittag zu uns ein, dann will ich mir den Prinzen ja auch einmal ansehen.“
Das war ein wichtiger Satz. Wir durften zwar als Mädchen unsere Freundinnen und Werner – unser Bruder – seine Freunde mit nach Hause bringen, aber umgekehrt war Mutti nicht begeistert; dann musste es schon etwas „Festes“ sein. Also schlussfolgerte ich, dass Mutti einsah, dass Gerd für mich keine vorübergehende Freundschaft war.
Dieser Gedanke bewirkte in mir ein großes Glücksgefühl. Schnell stand ich auf, umarmte Mutti glücklich und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.
Die Woche, die zwischen Sonntag und dem nächsten Sonntag lag, war sehr lang. Außerdem trafen wir uns nur zweimal, so dass ich schon Angst hatte, ich könnte ihm die Einladung zu uns nach Hause gar nicht mitteilen.
Am Sonntag hörte ich die Predigt wie durch einen Schleier und musste mir Mühe geben, mich zu konzentrieren, was der Prediger sagte. Aber während einer Predigt sieht ja keiner, welche Gedanken einen bewegen, und so war ich froh, als wir nach Hause gehen konnten, um Mittag zu essen und nach dem Mittagessen konnte ich Gerd von der Bahn abholen.
Der Himmel war strahlendblau. Die Bäume hatten zwar Ende November keine Blätter mehr, aber das Laub lag in allen Farben leuchtend auf der Erde. Er nahm mich in seine Arme und die Welt war noch viel schöner. In der Hand hielt er einen kleinen Blumenstrauß. Freudestrahlend sagte er: „Der ist für deine Mutti!“ Mein erster Gedanke war: „Na, da sammelt er aber Punkte.“ Aber mein Gerd war eben ganz Kavalier und wusste, was sich gehörte. Alle Achtung! Langsam schlenderten wir zu uns – verliebt und glücklich.
Nun führte ich Gerd in das Haus, in dem wir wohnten. Die Treppe war zwar blitzsauber gebohnert, aber Farbe war an den Wänden kaum zu erkennen.
Mein Herz klopfte bis zum Hals hinauf, als wir die Türe öffneten. Auch hier war der Tisch gedeckt (wie bei seinen Eltern). Artig sagte Gerd zu meiner Mutti: „Ich danke Ihnen für diese Einladung“ und überreichte ihr strahlend lächelnd die Blumen. Muttis Augen leuchteten – wie lange war das her, dass sie – ohne dass sie Geburtstag gehabt hätte – Blumen bekommen hatte!
Auch bei uns stand ein Tisch in der Mitte des Zimmers, aber er hatte dreierlei Stühle, ein Stuhl stand neben dem kleinen transportablen Kachelofen und Besuch musste sich immer auf das „Sofa“ setzen. Das war zwar nur eine Kastenmatratze auf Holzklötzen,