Geburtsort: Königsberg. Ursula Klein
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Aber Gerd schaute sich gar nicht lange um und setzte sich auf den ihm zugewiesenen Platz auf das „Sofa“. Er war groß und konnte – im Gegensatz zu mir – trotzdem noch auf den Teller sehen. Der Kaffee – heute einmal richtiger Bohnenkaffee – wurde eingeschenkt und duftete herrlich. Er wurde nach einem besonderen Ritual gekocht: Die Kaffeekanne wurde zunächst mit kochendheißem Wasser ausgespült, die Kaffeelöffel voll Kaffee abgezählt in die Kanne gegeben und danach mit kochendem Wasser übergossen. Sorgfältig wurde der Schnabel der Kanne mit Papier verschlossen, damit kein Aroma entweichen konnte. Bis dann der Gast kam, wurde die Kanne unter einer Kaffeemütze warmgehalten, so dass der Kaffee auch richtig durchziehen konnte. Der Deckel der Kaffeekanne wurde mit einem Deckelhalter, der auch gleichzeitig als Tropfenfänger fungierte, festgehalten. Bevor der Kaffee eingeschenkt wurde, musste der Pfropfen aus dem Kaffeegrund, der sich in dem Schnabel gebildet hatte, erst entfernt werden. Danach erst konnte der Bohnenkaffee durch ein Sieb gegossen werden und landete in der Tasse.
Jeder nahm sich nun ein Stück Kuchen vom Kuchenteller. Für Gerd war es das Zeichen: jetzt kann ich essen. Aber erschrocken hörte er meinen Papa sagen: „Wir wollen erst einmal danken.“ Nun war es heraus. Gerd nahm den Kuchenlöffel wieder aus dem Mund, legte ihn auf den Teller und schaute mich fragend an. Ich – ängstlich, aber tapfer – lächelte ihn an, senkte meinen Kopf, schloss die Augen und faltete die Hände. Aus meinen Augenwinkeln heraus konnte ich erkennen, dass er es mir alles genau nachgemacht hatte. Gott sei Dank! Das war gut gegangen. Von ihm kamen nach dem Gebet keine Fragen, Bemerkungen oder eine andere Reaktion. Mir saß immer noch der Schrecken in den Gliedern, obwohl ich es doch hätte wissen müssen, was passiert. Aber ich war zu feige. Doch Gerd lächelte mich nur an und wollte mit dem Essen beginnen. Da es zur Feier des Tages einen belegten Tortenboden gab, drückte er den Kuchenlöffel in den Kuchenrand – und schwups – war das Stückchen auf seiner Hose. In Blitzesschnelle hatte er einen hochroten Kopf . Erschrocken suchte er das Stückchen auf dem Fußboden, fand es und steckte es in den Mund. Mutti tröstete sofort: „Das ist nicht schlimm, das Ihnen das passiert ist. Der Kuchenrand ist etwas hart geraten. Ich muss mich dafür bei Ihnen entschuldigen. Ihre Hose ist doch nicht beschmutzt?“
Aber in unserer Familie gab es immer genug Gesprächsthemen und Mutti lenkte gleich ab.
Unter dem Tisch fanden sich unsere Hände, die wir verstohlen drückten. Schneller als vermutet, hieß es dann aber: „Nun muss Gerd aber gehen, sonst verpasst er die Waldbahn.“
Ich brachte ihn die Treppe hinunter. Er nahm mich ganz fest in seine Arme. Der lange, innige Kuss hatte mich so aufgewühlt, dass ich vor lauter Freude und Erregung drei Stufen mit einem Mal nahm, bis ich wieder, viel zu früh, in der Wohnung war. Ich war noch total erregt und nicht fähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, als ich – wie aus der Ferne – meine Mutti hörte: „Na, wie hat es ihm bei uns gefallen?“ „Das kann ich dir gar nicht so eindeutig sagen, ich habe ihn nicht gefragt“, war meine schnelle Antwort. Mein Gedanke war nur: hoffentlich fragt sie nicht, was wir so lange im Flur gemacht haben. Wir hatten uns nämlich über nichts unterhalten, sondern nur immer und immer wieder geküsst. Und das war für mich das Wichtigste, denn es gab mir doch gleich Bestätigung, dass wir für ihn nicht zu ärmlich wohnten, er gegen das Beten nichts hatte und er mich ebenfalls liebte.
Nach diesem Besuch von Gerd bei uns lag mein Leben in Gedanken klar vor mir: es war ein gemeinsames, schönes Leben mit Gerd. Ich war mir meiner Sache so sicher, dass gar keine Fragen oder Zweifel mehr aufkamen.
Mir fiel nur auf, dass er gelegentlich nach Königsberg fragte, obwohl für mich mein Geburtsort keine so große Bedeutung hatte, denn ich lebte ja jetzt im Frieden, brauchte keine Angst mehr zu haben, hatte mein Essen, mein Zuhause und war außerdem noch glücklich und verliebt. Wenn er jedoch danach fragte, erzählte ich ihm dann so ein paar Einzelheiten aus dem Krieg. Für ihn waren dann meine Erzählungen wie Geschichten aus einem Bilderbuch.
*
Die Zeit verging in Riesenschritten. Wir verloren allmählich die Einstufung bei den Einheimischen, „Flüchtlinge“ zu sein.
Jedoch die folgenden Beispiele brachten mir meine Vergangenheit im Laufe der Zeit wieder etwas zurück.
Wir wollten heiraten und meldeten uns beim Standesamt an. Zunächst musste ich natürlich dem Standesbeamten eingestehen, dass ich keine Geburtsurkunde besaß, sondern nur einen „Auszug aus dem Taufregister der Evangelischen Kirchengemeinde Königsberg/Pr.- Ponarth“. Diese Urkunde – von Mutti für die Lebensmittelkarten-Beschaffung über viele Beamtenwege - heiß erstritten wurde von uns immer lächelnd als „Existenzberechtigungsschein“ bezeichnet. Hier stutzte der Beamte, denn eigentlich war eine Heirat ohne Geburtsurkunde beamtenrechtlich gar nicht möglich. Zum anderen war ich angeblich in einem Ort geboren, den es gar nicht mehr gab. Darum machte er den Vorschlag: „Na, da schreiben wir doch beim Geburtsort Kaliningrad hin, das hat doch wenigstens eine konkrete Aussage!“ Kleinlaut protestierte ich: „Aber in der Bescheinigung steht doch „Königsberg/Pr.“, da kann man doch nicht einfach einen anderen Namen einsetzen – oder geht das?“ Er schüttelte nur verständnislos den Kopf und fügte sich dieser besonderen Situation.
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Viele Jahre später: unsere Tochter war – wie ich damals – verliebt. Eines Tages fragte mich der junge Mann: „Stimmt das wirklich, dass Sie in Grönland geboren sind?“ Ich schaute ihn zunächst verständnislos an. Er versuchte mich aufzuklären. „Na, Ihre Tochter hat doch gesagt, dass Sie ganz oben im Norden geboren sind – in Grönland.“ Da dämmerte bei mir etwas: Im Atlas war mein Geburtsort nicht mehr zu finden und ich hatte immer gesagt, dass Königsberg im Norden liegt. In der Folgezeit lächelten wir noch öfter über dieses Missverständnis.
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Die Informationen im West-Fernsehen wurden über die ehemaligen deutschen Gebiete immer umfangreicher – Kriegsfilme spiegelten Fluchtgeschichten wider, Berichte über Samland, Kurisches Haff, Königsberg, Masuren, das Bernsteinzimmer u. ä. kamen zwar vereinzelt, brachten mir aber ab und an Informationen über meine Heimat, die ich nur von Kriegserlebnissen her kannte. Äußerst interessiert hörten wir uns diese Berichte an, sahen die Filme und ich erkannte in einigen Situationen die eigene Vergangenheit.
Auch unsere Nachschlagewerke gaben uns nun schon mehr Informationen. So las ich im Universallexikon, das 1986 erschienen war, Königsberg:
1255 Gründung der Burg Königsberg
1457/1525 Sitz der Hochmeister des Deutschen Ritterordens
1525/1618 Sitz der Herzöge von Preußen