Kālī Kaula. Jan Fries
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All diese Materialien waren im fernen Sumer, einem Land, das weder über Bodenschätze noch sonstige natürlichen Ressourcen verfügte, extrem wertvoll. Andererseits war Sumer für seine Getreideüberschüsse und seine feinen Textilien berühmt. Auch das Knowhow der Sumerer, die als erste (bekannte) Kultur eine fortgeschrittene Mathematik, Wirtschaft, Bewässerungstechnologie und Bürokratie entwickelten, könnte die Industalbewohner interessiert haben. So erschien es eine Zeitlang als gesichert, die Industalbewohner als entfernte Verwandte der Sumerer zu betrachten. Doch so einfach sind die Dinge praktisch nie. Zunächst einmal waren die Angehörigen der Obed- und Halaf-Kulturen, welche nach ihrer langen Wanderung im Industal Fuß fassten, keine Sumerer, sondern mit deren Vorgängerkulturen in Mesopotamien verwandt.
Zum anderen war die Bevölkerung, die so einfach als Sumerer bezeichnet wird, zu diesem Zeitpunkt längst eine komplexe Mischung unterschiedlichster Ethnien. Hinzu kommt, dass die neu eingewanderten Migranten im Industal eine weit ältere Bevölkerung vorfanden. Besiedelt wurde das Industal bereits im Mesolithikum, was in diesem Fall das 8. Jahrtausend v.u.Z. bedeutet. In Mergarh schlossen sich die Jäger und Sammler bereits um das 7. Jahrtausend v.u.Z. der Neolithischen Revolution an und wurden zu Bauern. Aus dieser Zeit gibt es Belege für aus Ziegeln gebaute Siedlungen, die Kultivierung von Gerste (Weizen kam später) und die ersten extrem groben menschlichen Figurinen aus ungebranntem Ton. Diese Figurinen stellen üblicherweise sitzende Menschen dar, sie sind aber so primitiv, dass weder Geschlecht noch gesellschaftlicher Status oder Kleidung zu erkennen sind. Einige von ihnen sehen überhaupt kaum menschlich aus. Auf dieser Kulturstufe waren die Menschen noch stark von der Jagd abhängig und die Haustiere ähnelten noch sehr ihren Wildformen. Im Laufe des nächsten Jahrtausends wurde die Rinderzucht zur Grundlage der Gesellschaft, während die Jagd zunehmend an Bedeutung verlor.
Die Siedlungen wuchsen, und der Bestand an wilden Tieren nahm rasch ab. Als die mesopotamischen Migranten eintrafen, begegneten sie einer altansässigen Gesellschaft, die die Grundlagen des bäuerlichen Lebens gründlich beherrschte. Deshalb wird die Induskultur heute meist als eine Mischung aus mesopotamischen Einwanderern und einheimischen Bauern betrachtet, was sowohl die Ähnlichkeit mit den Sumerern erklärt als auch den einzigartigen Charakter der Induskultur. Wie üblich lohnt es sich, einen Blick auf die neuere Forschung zu werfen. Die ersten Ausgrabungen konzentrierten sich auf die berühmten Städte Harappa und Mohenjo-Daro und führten zu der Annahme, dass diese die Hauptstädte einer Kultur waren, die gut organisiert, entwickelt, standardisiert und äußerst langweilig war. Verschiedene Autoritäten erklärten, dass das Industal lange Perioden der Stagnation in Kunst und Handwerk erfahren hat. Dieses Bild musste revidiert werden. Die neueren Ausgrabungen haben gezeigt, dass die Induskultur geografisch größer war als je vermutet und dass es eine Menge einzigartiger lokaler Entwicklungen jenseits des Industals gab. Ganz ähnliche Städte wurden im nordöstlichen Afghanistan entdeckt, an den Ufern des Flusses Oxus zwischen Pakistan und Iran, und nördlich von Bombay. Schätzungen, die auf Ausgrabungen in den 1970ern basieren, sprechen von einem Gebiet von mindestens 750.000 Quadratkilometern; dies ist größer als Pakistan.
Damit ist die Industalkultur geografisch und nach der Bevölkerungszahl größer als die beiden anderen Hochkulturen jener Epoche, Mesopotamien und Ägypten. Doch damit hören die genauen Werte auf. Denn im Gegensatz zu den Mesopotamiern und den Ägyptern sind die Industalbewohner bisher noch reichlich wenig erforscht. Wir haben zum Beispiel keine Ahnung, ob sich die Induskultur über das ganze Gebiet erstreckte oder in einer Reihe von mächtigen Städten isoliert blieb. Wenn es einen Abstand von bis zu tausend Kilometern zwischen der einen und der anderen Großstadt gibt, kann man kaum davon ausgehen, dass die Stadtbevölkerung eine völlige Kontrolle über jeden Bauern und Nomaden dazwischen hatte. Bis zum heutigen Tag bilden die Städte die Hauptquelle unseres Wissens. Sie waren Meisterwerke der Planung und Konstruktion. Viele von ihnen hatten über 50.000 Einwohner. Sie hatten auch den höchsten Sanitärstandard in der gesamten Frühgeschichte des Nahen Ostens.
Von den erhaltenen Häusern war die Mehrzahl mit Brunnen oder einer Frischwasserversorgung ausgestattet; sie hatten auch Abwassersysteme und oft ein Badezimmer. Die Gebäude hatten wahrscheinlich mehrere Stockwerke – Fenster gab es nicht zur Straße, sondern nur zu einem Innenhof. Was wirklich verwirrend ist, ist das Fehlen von repräsentativen Bauten. Es gibt keine Paläste oder Tempel in diesen Städten. Dafür gibt es Belege für große Bäder (?) und öffentliche Plätze. Bäder (d.h. große Wasserbehälter ohne bekannten Zweck) wurden in Mohenjo-Daro und Lothal entdeckt. Große Plattformen aus Ziegeln tauchen vor allem in Mohenjo-Daro, Lothal, Chanhu-Daro, Kot Diji und Harappa auf. Diese Plattformen wurden interpretiert als Versammlungsplätze, Ritualstätten, Fundamente für weitere Gebäude und als eine künstliche Erhöhung in einer Landschaft, die ständig von Überschwemmungen bedroht war. Wenn Du Dir Fotos der Ausgrabungen anschaust, wirst Du den Eindruck bekommen, dass die Industalleute praktisch in einer Wüste lebten. Das ist völlig falsch: das Land war dank der regelmäßigen Überschwemmungen extrem ergiebig und bot große Mengen frischer fruchtbarer Erde. In der Nähe der Flüsse gab es dichte Dschungel, die von Rindern, Tigern, Elefanten, Rhinozerossen, Affen und Krokodilen bevölkert waren.
Die Induskultur erreichte ihren Höhepunkt zwischen 2500 und 1900 v.u.Z. Genau wie die beiden anderen Hochkulturen ihrer Zeit verfügten die Industalbewohner über eine Schrift. Doch diese weicht stark von den anderen ab. Zurzeit gilt die Erfindung einer funktionierenden Schrift (im Gegensatz zur wesentlich früheren Viñca-Schrift, die eher sakralen Zwecken diente) als ein Verdienst der Sumerer. Diese begannen um etwa 3200 v.u.Z. zu schreiben. Die frühesten erhaltenen Texte sind einfach Listen, die der Buchhaltung dienten. Sie wurden von Priestern angefertigt, welche die großen Tempel und deren Manufakturen leiteten.
Da die Tempel in etlichen Stadtstaaten die höchste Macht darstellten, und über den Großteil des Landes verfügten, war die sumerische Buchhaltung alles andere als einfach. Zunächst handelte es sich um einfache Listen von Zahlen, Namen und hübschen Piktogrammen, welche z. B. Rinder oder Schafe bedeuteten. Schon bald darauf folgte die Erkenntnis, dass man nicht nur mit Bildern schreiben kann, sondern dass es auch die Möglichkeit gibt, die Klangform der Bilder zu nutzen. An genau diesem Punkt verwandelt sich eine Ansammlung von Bildern in eine echte Schrift. Das war ein entscheidender Durchbruch, der es ermöglichte, über Themen zu schreiben die nicht als Bilder darstellbar waren. Zwischen ca. 3200 und 3000 v.u.Z. entwickelte sich so ein Schreibsystem, welches immer komplexere Themen darstellen konnte, und dabei immer abstrakter wurde. Wer heute Keilschriftzeichen sieht, würde kaum auf die Idee kommen, dass jedes von ihnen ursprünglich ein Bild war. Als die sumerische Schrift bereits funktional war, wurde die Idee der Schreibkunst von den Ägyptern übernommen. Diese waren allerdings nicht daran interessiert, die Schrift der Sumerer zu kopieren. Sie übernahmen die Prinzipien und Möglichkeiten, gestalteten aber daraus ihre ganz eigene Bilderschrift, welche speziell für ihre Sprache geeignet war und, im Gegensatz zur sumerischen Schrift, keine Vokale darstellt. Das Ergebnis waren viele verschiedene Worte die mit den gleichen Zeichen geschrieben wurden. Für die heutigen Forscher ist das ein deutlicher Nachteil: Übersetzungen der mesopotamischen Literatur sind wesentlich sicherer als es Übersetzungen aus Ägypten jemals sein werden. Im Industal scheint eine ähnliche Entwicklung geschehen zu sein. Die dortige Kultur entwickelte eine eigene Schrift, die auf einzigartigen Symbolen und Bildern basierte. Doch leider ist diese Schrift bis heute nicht entschlüsselt worden.
Ein Teil des Problems ist die relative Seltenheit der Inschriften. Mesopotamische Keilschrift überdauerte die Jahrtausende auf wunderbar haltbaren Tontäfelchen; ägyptische Hieroglyphen auf Steinen, an Bauwerken und in perfekt abgeschlossenen Grabkammern. Ob