Kālī Kaula. Jan Fries
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kālī Kaula - Jan Fries страница 12
Kapitel 2
Vor dem Tantra
Lass mich Dich zu einer Reise durch die Zeit einladen. Es ist auch eine Reise durch die vereinfachte Fiktion, die die Leute Geschichte nennen, und eine Reise durch die Möglichkeiten des Glaubens und religiösen Verhaltens. Zugegeben, manche Leser werden jetzt fragen, warum wir nicht sofort mit Kālī loslegen. Das wäre machbar. Das Ergebnis wäre ein wesentlich kürzeres Buch, welches voll von Gelegenheiten für Missverständnisse wäre. Denn dummerweise kann man die Götter einer Kultur nicht verstehen, ohne vorher eben diese Kultur intensiv kennen zu lernen. Und genau hier beginnt der Tanz von Lakṣmī. Wo Kālī Befreiung bringt, offenbart Lakṣmī die Freude, Fülle und Schönheit der ganzen Welt. Die beiden gehören eng zusammen; und eine ist ohne die andere nicht zu verstehen. Und deshalb beginnen wir, indem wir Tantra ganz allgemein kontextualisieren. Die Wurzeln von Tantra reichen sehr tief. Daher beginnen wir mit dem Anfang der indischen Geschichte. Wenige Länder bieten ein solch reichhaltiges Feld der religiösen Entwicklung wie das alte Indien. Nun magst Du mit dem Thema gut vertraut sein, die Veden gelesen haben, die wesentlichen Upaniṣaden kennen und ein gutes Grundlagenwissen der Literatur des frühen Hinduismus haben. Wenn das nicht der Fall ist, wird etwas Hintergrund hilfreich sein. Das folgende Kapitel bietet eine stark vereinfachte Darstellung der religiösen Entwicklung im alten Indien bis zur Mitte des 1. Jahrtausends u.Z., als die ersten bekannten Werke der tantrischen Literatur verfasst wurden. Tantra tauchte nicht aus einem Vakuum auf. Es fiel nicht fertig vom Himmel. Jeder Erneuerer, egal wie innovativ und originell, baut auf dem auf, was frühere Erneuerer erschufen. Erneuerung kann kreative Neuerfindung bedeuten. Sie kann Anpassung, Neuinterpretation und Kombination mit neuen Zutaten bedeuten, und meist beinhaltet sie eine Menge Synkretismus und bedarf des Muts zur Originalität. Es gab hunderte von tantrischen ‚Schulen‘ (wenn ich diesen irreführenden Ausdruck verwenden darf) im Laufe der Geschichte, von denen die meisten heute ausgestorben sind, und jede von ihnen nahm ihren Anfang, als ein paar unzufriedene Leute beschlossen, die Sache zu verbessern. Selbst diejenigen, die eine Tradition ablehnen, reagieren auf sie. Die Geschichte von Magie und Religion ist nicht nur eine Geschichte von Traditionen, sondern auch von kreativer neuer Erfindung und Erkenntnis. In den nächsten Seiten lernst Du die Materialien kennen, aus denen Tantra gewoben wurde. Du wirst auch die Philosophien finden, die die Tantriker aus dem einen oder anderen Grund ablehnten, und Einsicht in die menschliche Suche nach Kontakt und Einheit mit dem Göttlichen bekommen. Für alle anspruchsvollen Leser möchte ich hinzufügen, dass die nächsten Seiten nur eine kurze, simple Zusammenfassung bieten. Ich musste eine Menge faszinierendes Material auslassen und das Komplexe vereinfachen: Kurz gesagt, gibt es hier viele Halbfakten und Fehldarstellungen. Um diese offensichtlichen Mängel zu beheben, bitte ich Dich, Deine eigenen Recherchen anzustellen. Verallgemeinerungen sind Lügen, und wenn man mehrere tausend Jahre höchst komplexer Aktivitäten auf ein paar Seiten kondensieren muss, werden das Einzigartige, das Ungewöhnliche und Ausnahmen von den Regeln leicht übersehen. Es gibt Ausnahmen, erinnere Dich daran – indische Religionen sind voll davon. Aus Platzgründen kann ich auch nicht für jedes kleine Detail Quellen angeben. Im Allgemeinen halte ich mich an Glasenapp (1958), Gonda (1960) und Franz (1991). Wenn nicht anders angegeben, sind Zitate aus dem Ṛg Veda (ṚV) nach Griffiths Übersetzung angeführt und Zitate aus dem Atharva Veda nach Whitneys Wiedergabe. Die Upaniṣaden sind nach Radhakrishnans Übersetzung zitiert.
Bild 3
Mesolithische Felskunst.
Oben rechts und links: Zwei Darstellungen aus Pachmarhi, Madhya Pradesh. Das linke Bild ist ein tierisch-menschlicher Tänzer, vielleicht ein gestaltwandelnder Zauberer, die Figur auf der rechten Seite trägt eine erstaunliche Vorrichtung aus Schädeln und ein Lendentuch aus Tierfell; vielleicht ein früher Ahne der Schädel tragenden Gottheiten.
Unten: Ritual oder Tanz mit Gestaltwandlern, Bhimbetka, Madhya Pradesh.
Nach Mode und Chandra.
Das Industal
Als die Ruinen der großen Städte der Industalkultur (auch Harappa-Kultur genannt) entdeckt wurden, führten sie zu einer kreativen Neuinterpretation der Geschichte. Die lange vorherrschende Annahme, dass die indoeuropäischen Eroberer (Ārya) die erste Hochkultur in Indien geschaffen hätten, musste aufgegeben werden. Im Industal und auch in bemerkenswerten Entfernungen von diesem wurde große Städte ausgegraben, von denen jede aus sonnengetrockneten oder gebrannten Ziegeln gebaut war und aus systematisch angelegten langen, geraden Straßen und Gebäuden bestand. Diese Städte schienen zu perfekt, um das Ergebnis einer lokalen Entwicklung zu sein. Sie waren nicht organisch gewachsen, sondern ausgesprochen planvoll angelegt. Folglich wurde ihr Ursprung anderswo vermutet.
Dieses Anderswo erwies sich als Mesopotamien. Nach der derzeitigen Meinung kam das so: die mesopotamischen Obed- und Halaf-Kulturen dehnten sich im sechsten und fünften Jahrtausend v.u.Z. ostwärts aus, in einer Migrationsbewegung, die den größten Teil des Iran und des südlichen Turkmenistan abdeckte und den Indus um das vierte Jahrtausend v.u.Z. erreichte. Diese Migranten hatten eine hochentwickelte Landwirtschaft und eine gute Vorstellung davon, wie man Siedlungen und Städte baute. Sie taten das an vielen Orten und verwendeten immer eine recht ähnliche Architektur und Technologie. Soweit zum allgemeinen Forschungsstand. Es gibt aber, gerade unter patriotischen indischen Forschern, viele, die es bevorzugen würden, dass die Induskultur eine einheimische Entwicklung war. Nach deren Ansicht entwickelten die Industal-Bewohner ihre Kultur selbstständig, wobei sie allerdings in regem Handelskontakt mit Mesopotamien standen. Zu einer städtischen Hochkultur kam es um die Mitte des dritten Jahrtausends v.u.Z. Hinzu kamen eine Vielzahl damit verbundener Siedlungen und Fundorte, von denen bisher weit über tausend entdeckt wurden.
Bild 4
Induskultur, Siegel (nicht Maßstabsretreu)
Oben: Ritualszene. Hergestellt von den Indusleuten, exportiert. Entdeckt auf Failaka, einer Insel nahe Kuwait.
Mitte links: Nashorn. Mohenjo Daro, 3,85 x 3,85 cm.
Mitte rechts: Elefant, Mohenjo Daro, 2,58 x 2,63 cm.
Unten: Stier/Wildrind mit Fisch, Gipsabdruck eines Siegels in Mohenjo Daro.
Zunächst erklärten die Gelehrten des frühen zwanzigsten Jahrhunderts den hohen kulturellen Standard als ein Ergebnis der mesopotamischen Migration. Immerhin hatten Sumer (und übrigens auch Elam, im iranischen Hochland) zu diesem Zeitpunkt die größten Metropolen der Welt aufzuweisen. Diese Theorie wurde durch den Beweis eines lebhaften Handels mit Sumer erhärtet. Güter aus dem Industal wurden ins moderne Dilmun und von da aus nach Mesopotamien transportiert. Im dritten Jahrtausend v.u.Z.