Kālī Kaula. Jan Fries
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Alchemie ist ein weiteres Thema, das ich weitgehend auslassen musste. Es wurde von den meisten Forschern ignoriert, außer von solchen Pionieren wie David Gordon White. Die Kunst der Raffinierung und Einnahme von Quecksilber und Zinnober war essentiell in vielen ‘tantrischen’ Systemen, wie bei den Siddhas, Nāthas und Yogīs, und keineswegs eine Nebensache. Zahlreiche Adepten, die den Haṭhayoga und das moderne Sieben-Cakras-System entwickelten, nahmen fröhlich Gifte ein, ungeachtet der Konsequenzen. Sie wollten vor allem die Welt transzendieren oder Unsterblichkeit erlangen, und ersteres hat meistens ziemlich schnell geklappt. Sie verkauften solche Wunderdrogen auch an wohlhabende Aristokraten und Könige. Solche Heilmittel sind heute noch verbreitet: ich habe mit etlichen Nepalis gesprochen, die der Ansicht waren, dass Quecksilber verjüngt und das Leben verlängert. Da vom praktischen Gesichtspunkt aus nur wenig Nutzen in diesem Thema liegt – es sein denn, Du willst Dich umbringen – habe ich die Sache nur hier und da erwähnt.
Schließlich gibt es noch einen gewaltigen Bereich dessen, was man ungefähr als ‘Volkstantra’ bezeichnen kann, basierend auf Myriaden von ethnischen Traditionen und lokalen Gottheiten, Gebräuchen und Ritualen. Während das Wort ‘Tantra’ vor allem ‘Gewebe, (spiritueller) Text, Lehrbuch, Wissenschaft’ bedeutet und alles, was wir von den früheren Systemen wissen, auf schriftlichen Quellen basiert, gibt es einen enorm komplexen, bunten und verwirrenden Bereich von ungeschriebenen Traditionen, die von Leuten entwickelt wurden, die draußen auf der Straße oder als Haushälter in der Gesellschaft lebten. Diese Themen sind faszinierend und werden in den Büchern von June McDaniel wunderbar präsentiert.
Zuletzt möchte ich noch ein Thema erwähnen, welches hierzulande besonders brachliegt. Es handelt sich um spirituelle Musik. Die klassische indische Musik gehört zum Besten, was auf diesem Planeten je entwickelt wurde. Sie besteht oft aus einer subtilen Kombination von traditionellen Elementen (Tonleitern, Rhythmen, kurzen melodischen Elementen) und einer großen Menge Improvisation. Rāgas (spezielle Musikstücke, Farben, Gefühle) sind keine definierten Lieder oder Kompositionen, wie hierzulande üblich, sondern leben durch die Tatsache, dass sie sich bei jedem Spiel neu entwickeln. Wenn ein guter Musiker einen Rāga spielt, weiß das Publikum nicht, ob das Ereignis zehn Minuten oder zwei Stunden dauern wird. Da diese Musik von der Improvisation lebt, ist sie viel eher als ein spirituelles Ritual als eine mechanische Darbietung zu verstehen. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele bedeutende Tantriker selber begeisterte Musiker waren (und sind).
Überschwängliche Freude, höchste Glückseligkeit, zunehmendes Wissen, das Spiel der Flöte und der Viṇā-Laute, Poesie, Weinen, Redegewalt, Hinfallen und wieder Aufstehen, Gähnen und Herumwandeln – all diese Handlungen, oh Devī, werden als Yoga-Praktiken betrachtet. In diesem Cakra (=Ritualkreis) verhalten sich die heldenhaften Yogīs und Yoginīs, in ihrem ekstatischen Bewusstsein, entsprechend dem Hochgefühl ihres Geistes. (KNT, Kapitel 8, nach Rai).
Musizieren ist eine wundervolle Methode, das limbische System in Deinem Gehirn zu beeinflussen und die Gefühle zu hervorzurufen, die Dich weiterbringen.
Er geht dann zum Kula Pīṭha, um die Kula-Gottheit zu verehren. In der Tür des Andachtsortes zeigt er sich freudig mit Gesang, Tanz und Musikinstrumenten, und nachdem er so den Kula Dämon vertrieben hat, sollte (der Sādhaka) den Kula-Treffpunkt verehren. (KCT, 2, 13-14, nach Finn).
Musik ist viel mehr als Unterhaltung. Sie ist auch eine Form der Bewusstseinsveränderung, eine einfache und praktische Methode, Trancezustände zu generieren. Wir können die Götter mit Gebet und Geste erreichen, aber wir können auch einfach eine passende Tonleiter nutzen, um mit ihnen zusammenzukommen. Da das Thema sehr umfangreich ist, habe ich mich entschlossen, den ursprünglich vorgesehenen etwa dreißig Seiten langen Anhang auf ein winziges Minimum zu reduzieren, und ein paar grundlegende Rāgatonleitern, die bestimmte Götter manifestieren, am Ende des Buchs aufgeführt. Du wirst mit ihnen zwar noch lange keine klassische indische Musik machen, aber sie können Dir helfen, die Götter in einer Klangmeditation zu erleben. Dafür brauchst Du keine indischen Instrumente. Ein paar Flöten in verschiedenen Stimmungen, eine Gitarre, Mandoline oder Geige tun’s auch. Wichtiger als die Instrumente ist das Bewusstsein vom Klang. Klang ist im indischen Denken essentiell: alles manifestiert sich zuerst als Idee, als Vibration, Klang, Energie und zuletzt als mehr oder weniger feste Form. Klang ist dabei viel näher am reinen Bewusstsein als eine vermenschlichte Form. Den Klang zu erzeugen, ist ein Teil der Schöpfung, und genauso wichtig ist es, genau hin zu hören.
‚Daher hört die höchste Göttin alles. Da sie in der Form der Kraft des Hörens weilt, hat sie die souveräne Macht, die darin besteht, stimmige und angemessene Verbindungen zu schaffen, indem sie allen Klang zu einer bedeutungsvolle Ganzheit verbindet …‘ (Abhinavagupta, PTV, Seite 68, nach Singh). Wenn Du wirklich intensiv ins Tantra eintauchen willst, gehört freies Musizieren unbedingt dazu.
Um all diese Auslassungen auszugleichen, kann ich Dir nur empfehlen, soviel wissenschaftliche Literatur über ‘Tantra’ zu lesen, wie Du nur in die Finger bekommen kannst, um zu entdecken, was für Dich funktioniert, und es weiterzuentwickeln. ‘Tantra’ ist kein Fossil aus dem Museum der vertrockneten Spiritualität; es ist vor allem eine Einstellung, die Dein Leben auf vielerlei Weise verändern wird. Manches im ‚klassischen Tantra‘ ist unzeitgemäß, unnütz, unpassend für unsere Gesellschaft, strafbar oder schlichtweg ungesund. Anderes verdient es, wiederbelebt und neu entdeckt zu werden. Wieder andere Methoden lassen sich mit großem Nutzen in andere spirituelle Disziplinen einbringen; hier denke ich vor allem an die modernen heidnischen Wege und die westliche magische Tradition, deren Repertoire an authentischen spirituellen Praktiken dank der traurigen Quellenlage leider eher gering ist. Tantra ist kein Ding an sich, sondern eine Lebenseinstellung. Wenn Du denjenigen danken willst, die Dir voraus gingen, dann lerne alles, was Du kannst, verbessere eine Menge und bring es in neue Dimensionen.
Abkürzungen der wichtigsten Primärquellen mit Kommentaren
AV Atharvaveda Der jüngste der vier Veden; der AV bietet eine große Auswahl an Hymnen, Sprüchen, Flüchen und Zaubereien, rituellen Anweisungen, Formeln und ungewöhnlichem Material, das keinen Platz in den älteren Veden fand. Der Atharvaveda ist bemerkenswert wegen seiner praktischen Nutzbarkeit und seiner poetischen Anmut. Er steht zwischen dem klassischen vedischen Denken und der subtileren Philosophie