Kālī Kaula. Jan Fries

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Kālī Kaula - Jan Fries

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Form ist wie der Heilige Tanz.

      Nun ist Śiva nicht nur der Gott der volkstümlichen Religion, er ist auch ein Gott mit zahlreichen Gesichtern. Es gibt hunderte von Göttern in Indien, die zu der einen oder anderen Zeit mit Śiva identifiziert wurden. Wenn Du Originaltexte liest (was ich dringend hoffe), wirst Du bemerken, dass der übliche Rahmen eines tantrischen Textes ein Dialog zwischen Śiva und Śakti ist. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Namen irgendwo auftauchen. Meist wirst Du feststellen, dass die zwei sich in einem einzigen Text mit Dutzenden von Namen und Titeln anreden.

      Die volkstümliche Religion ist oft irreführend, wenn ihr Bildwerk zu simpel ist. Wenn Śivas Bild ein Penis (Liṅga) ist, dann ist das Bild von Śakti eine Vulva (Yoni, Yonī). Hier sollte noch angemerkt werden, dass das Wort ‘Yoni’ normalerweise männlichen Geschlechts ist, und vor allem Ursprung, Schoß, Quelle, Herkunftslinie, Abstammung etc. bezeichnet. Nur in Bezug zu den weiblichen Genitalien ist das Wort von weiblichem Geschlecht. Und es wird im Allgemeinen nur selten als Umschreibung von Vulva und Vagina benutzt; Begriffe wie Gabha, Vivara, Bhaga, Sambhada etc. sind viel gebräuchlicher. Darstellungen von Liṅga und Yoni kommen oft in Tempeln und Schreinen vor, sehr zum Widerwillen der moslemischen Eroberer, christlichen Missionare und indischen Reformatoren, und haben zu der irrigen Idee geführt, dass ihr Kult hauptsächlich aus dem Liebesspiel besteht. Bis zu diesem Tage, und heute vielleicht noch mehr denn je, nehmen die Leute an, dass Tantra eine Form der geheiligten Erotik sei, und dass seine Anhänger sexbesessen seien. Zugegeben, manche von ihnen mögen es sein, aber genauso viele leben in Keuschheit; tatsächlich verlangen die meisten noch lebendigen Schulen des Tantra den Zölibat.

      Während Śiva dank seiner höchst spezifischen Ikonografie leicht zu erkennen ist, bleibt Śakti universell. Es gibt nur wenige Darstellungen von Śakti als solcher. Śakti bedeutet Kraft, Macht, Energie (dies schließt im indischen Denken Form und Materie ein) und wird in der populären Ikonografie selten direkt personifiziert. Stattdessen erscheint sie als eine von vielen hunderten von Göttinnen. Abhängig von der Stimmung ihrer Interaktion nehmen Śakti und Śiva verschiedene Formen und Persönlichkeiten an. In der volkstümlichen Religion sind die beiden ein göttliches Paar, dessen Ehe und Liebesspiel das Universum erschafft, erhält und zerstört. Immer wieder und auch gleichzeitig. Dies ist eine sehr simple Idee, da sie menschliche Geschlechter und sexuelle Dynamik impliziert. Sie impliziert auch einen männlichen und einen weiblichen Teilnehmer. Schön und gut für schlichte Geister oder für Leute, die zu ‘Tantra Workshops’gehen, um etwas grundlegende Sexualtherapie zu bekommen. In den subtileren Systemen des Tantra, insbesondere unter den Traditionen von Kaschmir, ist die Polarität von Śakti und Śiva viel stärker verfeinert.

      Die tantrischen Lehren sind komplex, wenn es um die Frage von Geschlecht und Göttlichkeit geht. Manche tantrischen Texte erklären, dass Männer Śiva manifestieren, während Frauen Śakti manifestieren. Im einflussreichen Kulārṇava Tantra 8, 103, stellt Śiva fest:

      Oh Kuleśvarī! Warum viel reden? In der Mitte eines Cakra (Ritualskreis) werden alle Männer wie Ich und alle Frauen wie Du.

      Das mag ein Schritt in die richtige Richtung sein, da es das göttliche Element in allen menschlichen Wesen anerkennt. Jedoch, wie Śmaśāna Kālī einwendet, zu glauben, dass Menschen entsprechend ihrer Geschlechtsteile und sozialen Rolle göttlich seien, ist über alle Maßen dämlich. Es mag die Gefühle vieler schlichter Geister unter den Śāktas verletzen, aber es braucht viel mehr als einfach einen Satz Genitalien, Kleidungsstücke und Verhaltensnormen, um Śakti oder Śiva zu manifestieren. Entsprechend der Geschlechterrollen und Anatomie Śakti oder Śiva sein zu wollen, reicht einfach nicht. Wir hatten Jahrtausende der sexuellen Diskriminierung, ohne dass jemand bedeutend froher oder weiser geworden wäre. Körper können weiblich oder männlich erscheinen, inkarnierte Seelen sind beides und nichts. In den meisten menschlichen Wesen ist Göttlichkeit nur als Potential vorhanden, und der Besitz einer Vagina oder eines Penis ist kaum genug, um Heiligkeit zu beanspruchen. Tatsächlich sind viele Leute umso weniger göttlich, je mehr sie vorgeben, komplett ‘männlich’ oder ‘weiblich’ zu sein. Spiritualität sollte auf Ganzheit und Verständnis abzielen, Sexismus zielt darauf ab, Menschen getrennt und auseinander zu halten. Es kommt kaum darauf an, ob ein gegebenes Geschlecht verdammt oder vergöttlicht wird: Auf fundamentalen Unterschieden zu bestehen, bedeutet, Apartheid zu fördern. Kommen wir also zu einer schönen Meditation: Was passiert, wenn Du die biologischen und sozialen Geschlechterdefinitionen vergisst und beginnst, jedes Wesen als einzigartig anzusehen? Wie würdest Du denken und erleben, wenn Du in deinem nächsten Leben im anderen Geschlecht unterwegs bist? Wie würdest Du Deine Freunde und Bekannte erleben, wenn sie vom anderen Geschlecht wären? Wie viele Leben bist Du schon hetero-, bi- oder homosexuell gewesen? Oder hast Dich, wie eine große Zahl komplett asexueller Menschen, überhaupt nicht für Sex interessiert?

      Denk darüber nach. In einigen Generationen werden sich die biologischen Wissenschaften bis zu einem Niveau entwickelt haben, dass es Dutzende von Geschlechtern in Körper und Geist gibt. Die Menschen der Zukunft werden sich aussuchen, was sie sein wollen. Sie werden auf die Vergangenheit zurückschauen und sich wundern, wie unglaublich primitiv wir waren.

      Glücklicherweise gibt es noch eine tiefere Schicht der Kula- und Kaula-Lehren, die die Beschränkungen der körperlichen und gesellschaftlichen Konditionierung transzendiert. Denn was auch immer ‚normal‘ in Deiner Zeit und Deiner Kultur gerade sein mag, es wird hoffnungslos überbewertet. Oben hast Du gelesen, wie das Kulārṇava Tantra die Geschlechterrollen vergöttlicht. Hier sind Männer zumindest potentiell Śiva und Frauen Śakti. Wenn sie sich Mühe geben. Doch das gute Buch ist eine Zusammenstellung, an der mindestens drei Jahrhunderte lang herumgedoktert wurde. Es ist deshalb kaum überraschend, Widersprüche darin zu finden. Kulārṇava Tantra, nach Rai:

      8, 97. Ob Frau oder Mann, ob Cāṇḍala oder hochgeborene Dvija, es gibt absolut keine Diskriminierung im Cakra (Ritualkreis). Jeder hier wird wie Śiva angesehen.

      9, 41. O Devī! Der Körper selbst ist der Tempel. Der Jīva (Leben, inkarnierte Seele) selbst ist der Gott Sadāśiva (ewige Glückseligkeit). Wirf die welken Blumen der Ignoranz und Verehrung weg in dem Bewusstsein des ‘Er ist ich’ (So’haṁ).

      9, 42. Jīva ist Śiva. Śiva ist Jīva, der Jīva ist nur Śiva. In Fesseln wird er Jīva genannt, von den Fesseln befreit wird er Sadāśiva genannt.

      In dieser Interpretation ist jeder Teilnehmer des Ritualskreises, egal ob männlich oder weiblich, eine Inkarnation von Śiva. Und damit kommen wir zu einer etwas anspruchsvolleren Deutung der Polarität. Erinnerst Du Dich an das Bestreben mancher Śiva-Anhänger, ihren Gott zum formlosen, absoluten Brahman zu erklären?

      Im fortgeschrittenen Kula, Kaula, Krama, Trika Tantra ist Śiva kein männlicher Gott, sondern reines Bewusstsein. Śiva kann als reine, passive Wahrnehmung beschrieben werden, als ein Beobachter und Zeuge, als das formlose Selbst, das sich an dem nie versiegenden Spiel von Bildern, Wesenheiten und Wirklichkeiten erfreut, die die Welt bilden. Als solches erscheint das höchste Bewusstsein buchstäblich als nichts. Abhinavagupta schrieb:

      Jener Gedanke, nämlich ‘nichts ist mein’, durch den die bewusstlosen Geschöpfe unaufhörlich zur Erbärmlichkeit reduziert werden, jener ganze Gedanke ‘nichts ist mein’ bedeutet für mich ‘Ich bin alles’. (PTV, 2002 : 57, nach Singh)

      Bild 18

      Hölzerne Skulptur, Südindien, 19. Jahrhundert.

      Hier identifiziert sich Abhinava mit dem formlosen, undefinierbaren, absolut freien Śiva selbst. Dieser ist pures Allbewusstsein, und um sich Allem bewusst zu sein, muss er ganz einfach selber nichts sein. Vielleicht sollte ich noch anfügen, dass der Begriff ‚nichts‘ im tantrischen hinduistischen und buddhistischen Denken

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