Kālī Kaula. Jan Fries
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Śakti dagegen ist Kraft, Macht, Energie, und weil alle Dinge, die existieren, Energie sind, ist Śakti buchstäblich alles. Dieses Alles ist veränderlich, es kommt, verwandelt sich, verschwindet, ruht im Vergessenen und kommt erneut hervor. Śakti ist dadurch ewig und dauerhaft, dass sie sich ständig wandelt. Hier sind wir weit von personifizierten Gottheiten mit menschlichen Formen und Genitalien entfernt.
Werfen wir einen Blick auf die Begriffe Kula und Akula. Kula bedeutet Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge und gehört zu Śakti. Da Śakti Form und Kraft ist, ist sie auch alle Dinge, und Dinge, wie wir alle wissen, stehen zueinander in Beziehung, erschaffen, erhalten und zerstören einander, kurz gesagt, man kann sich kein einziges Ding ohne Beziehung zu vielen anderen vorstellen. Deshalb ist der Weg des Kula der von der Einheit zum Vielfachen: alles, was existiert, ist eine Śakti, und jede Śakti erschafft mehr Śaktis. Akula bedeutet ‘ohne Familie, Gruppe, Bund, Clan, Menge’ und bezeichnet Śiva. Hier ist Śiva die Wahrnehmung, die frei von Beziehung und Verbindung existiert; sie ermöglicht das Spiel der Realität, ist aber kein Teil davon. In der Meditation ist Kula eine Form von Trance, bei der man im Alles verschwindet, und Akula eine Trance, bei der man sich vor Allem ins Nichts zurückzieht. Beide laufen so ziemlich auf dasselbe hinaus, nur der Weg der Transformation ist unterschiedlich. Wenn sich Kula und Akula vereinen, erlangen wir Kaula. In diesem Modell gibt es keine männlichen und weiblichen Teilnehmer. Jedes Wesen ist formloses Bewusstsein (Śiva) und Form/Energie (Śakti). Die Wahrnehmung ist Śiva; Körper und Welt sind Śakti. Dies bedeutet, dass jedes einzelne Ding, aus dem die weite Welt besteht, Śakti ist. Der Körper jeder Person, jedes Tieres, jeder Pflanze, jedes Mineral, Element, jedes Wesen oder Gottheit ist Śakti. Dies gilt für die männlichen ebenso wie für die weiblichen.
Die männliche Form, die weibliche Form, jede Form – alle Formen sind zweifellos Ihre höchste Form (Gandharva Tantra).
Und wenn es um die rituelle Vereinigung geht – wer immer DU bist, bist Du Śiva-Bewusstsein im Śakti-Körper. Das was an Dir reine, namenlose, freie Wahrnehmung ist, ist Śiva. Das, was an Dir Form, Name, Bedeutung hat, ist Śakti. Wenn Du Dich mit Deinem Partner vereinigst, bist Du immer Śiva, egal, ob Du einen männlichen oder weiblichen Körper bewohnst, und egal, welche sexuelle Orientierung Du hast, und Dein Partner, egal welchen Geschlechts, ist immer Śakti. Genauso bist Du Śakti für jedes andere Lebewesen. Auf eine sehr wichtige Art ist Śakti das, was Austin Spare die Alle-Andersheit nannte, während Śiva als Alle-Diesheit bezeichnet werden könnte, wenn er dies wäre, aber das ist er nicht. So geht’s. Mit den Unterschieden zwischen Śiva und Śakti braucht man sich ohnehin nicht verrückt zu machen. Wie die meisten tantrischen Traditionen erklären, sind Śakti und Śiva im Prinzip zwei, aber in Wirklichkeit sind sie eins (oder keins). Es ist unmöglich, den Unterschied auszumachen. Ohne Wahrnehmung kann Form nicht existieren. Ohne Form gibt es nichts wahrzunehmen. Das klingt jetzt nach Theorie, aber Du kannst es später, in tiefer Trance oder hoher Bewusstheit selbst erleben. Daher der berühmte Spruch: Śiva ist Śava (Leichnam) ohne Śakti. Das ist noch nicht alles. Eine andere Interpretation geht darüber hinaus und erklärt, dass beide Bewusstsein sind: Śiva ist formloses Bewusstsein und Śakti Bewusstsein in Form. Eine dritte Interpretation erklärt, dass beide aus der höchsten Śakti (Parāśakti) entstehen, die reines Bewusstsein ist.
Sex, Geschlecht und Religion
Im traditionellen indischen Denken scheinen Frauen ein notwendiges Übel zu sein. Dies war nicht immer der Fall. In vedischen Zeiten (ca. 1500-800 v.u.Z), wie W.F. Menski (in Leslie 1992) zeigt, hatten Frauen noch einige Rechte und verdienten ein gewisses Maß an Respekt. Die Veden ehren Frauen für Fruchtbarkeit und vergleichen sie mit den Feldern, die alle ernähren. Das mag nicht viel scheinen, aber es ist besser als in klassischen Zeiten (800 v.u.Z.-200 u.Z.), in denen sie lediglich als Gefäße betrachtet wurden, um Sperma zu empfangen und Söhne hervorzubringen. In der vedischen Epoche wurden Mädchen als heiratsfähig angesehen, wenn sie körperlich alt genug waren, um Kinder zu gebären. In klassischer Zeit wurden Kinderhochzeiten die Norm. In vedischen Zeiten konnten Frauen eine wichtige, wenn auch zweitrangige Rolle bei den großen Śrauta-Opferungen spielen. Wie jeder Mann mussten sie eine Gruppe von Brahmanen engagieren, die das Ritual für sie durchführten. Es geschah nicht oft, aber es gibt Belege dafür, dass hochrangige Damen Opfer finanzierten und die spirituellen Vergünstigungen erlangten. Auch an den großen Soma-Opfern nahmen die Frauen der Sponsoren teil und gewannen hohen spirituellen Verdienst. In der klassischen Epoche wurde ihre Rolle stark herabgesetzt. Jene Frauen, die an Ritualen teilzunehmen pflegten, wurden durch Priester ersetzt, die einige ihrer Rollen übernahmen; ihre Anwesenheit konnte auch durch Gegenstände aus Gold oder weibliche Figuren aus heiligem Kuśa-Gras (Poa cynosuroides) ersetzt werden. Infolgedessen verschob sich die weibliche Ritualistik von den öffentlichen Śrauta-Riten zu den privaten häuslichen Gṛhya-Riten. Diese Rituale waren nicht so standardisiert wie die offiziellen, sondern eröffneten einen weiten Bereich von individuellen Variationen. Nur unter bestimmten Umständen, wie bei einer Hochzeit, bleib der weibliche Beitrag zum Ritual essentiell.
Bild 19
Bhairava
Bhairava im Chola-Stil, Bronze, 10.-11. Jahrhundert.
Heute in Paris.
Was für eine Art von Leben hatte eine Frau im alten Indien zu erwarten? Die Geburt eines Mädchens war nicht immer ein freudiges Ereignis. Bis zum heutigen Tage gibt es Familien, die in den Bankrott getrieben werden, weil sie zu viele Töchter haben. Söhne bleiben in der Familie und bestreiten oft die Altersversorgung ihrer Eltern. Töchter verlassen das Haus nach der Heirat, und die Aussteuer, die Hochzeitsfeier und das Durchfüttern der Gäste kann die Familie für Jahrzehnte, wenn nicht Generationen, in Schulden stürzen. Das ist keine Übertreibung, sondern ein sozialer Missstand. Wenn eine Tochter, wie erwünscht, in eine höhere Klasse heiratet, lässt sich die Familie des Bräutigams diese Ehre oft sehr viel kosten. Dazu kommt die extrem teure Hochzeitsfeier, bei der oft hunderte von Gästen auf beiden Seiten der Familie bewirtet, beschenkt und unterhalten werden wollen. Eine kleinere Feier, mit wenigen Gästen, wäre eine ungeheure Schande und würde auch ihrem Zweck nicht dienen, nämlich zwei große Sippen und deren Freunde und Bekannte zu wirtschaftlichen Partnern zu machen. So betrachteten, ganz entgegen dem menschlichen Instinkt, unzählige Familien die Geburt einer Tochter nur als einen weiteren Schritt hin zum Verhungern. Wenn ein Mädchen heiratete, erwartete man von ihr, dass sie ihre alte Familie vergaß (nicht, dass das jemals funktioniert hätte). Man erwartete von ihr im wörtlichen Sinne, ihren Mann als Gottheit zu verehren, all seinen Befehlen zu gehorchen, all seine Launen zu befriedigen und jede Individualität aufzugeben, die sie zuvor besessen hatte. Bei einer traditionellen Hindu-Heirat wird die Frau ‘die Hälfte ihres Mannes’, aber ihr Mann wird nicht die Hälfte seiner Frau. Hindu-Frauen hatten kaum eine Wahl. Wenn sie jung waren, kommandierten ihre Eltern sie herum; wenn sie verheiratet waren, machte die neue Familie damit weiter. Schau in den Varnāśrama Dharma (Glasenapp 1958), dort kannst Du lesen, dass das Mädchen vom Vater beschützt wird, die Frau von ihrem Mann beschützt wird, die Söhne sie im Alter schützen, und das sie niemals unabhängig sein soll. Die Gesetze des Manu enthalten eine ganz ähnliche Passage, nur dass Manu sich nichts ums Beschützen scherte. In seiner Version geht es darum, ‘gehorsam zu sein’. Die Gesetze des Manu