Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky
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Prof. Schwarz hatte sich eigentlich auf einige schöne Urlaubstage bei dem herrlichen Sommerwetter gefreut. Es waren Semesterferien, von denen er auch eine Woche für sich nutzen wollte. Endlich müsste er mal nicht um sechs Uhr aufstehen und mit der Autolawine eine gute Stunde vom beschaulichen Wendenschloss nach Mitte zur Charité in sein Institut fahren. Als er am Telefon die muntere Stimme der Kommissarin Marotzke hörte, legte er sein Buch beiseite und kletterte aus dem Liegestuhl. Wenn die 4. Mordkommission anrief, wurde er gebraucht. Den Ansatz zu einem brummigen Hinweis auf seinen Urlaub verschluckte er, weil die Marotzke ungefragt erklärt hatte, dass sein Oberarzt doch zu einer Tagung und die diensthabende Rechtsmedizinerin Frau Dr. Schöneberg in der Kinderklinik bei einem misshandelten Kind sei. »Kann ich nicht gleich über Müggelheim zur Krampenburg fahren?«, fragte Prof. Schwarz, aber die Kommissarin empfahl ihm die Anfahrt über Köpenick und Adlergestell bis zur Fähre in Schmöckwitz. Dort würde er an der Anlegestelle erwartet. Also vertröstete Schwarz seine Frau auf den Abend, griff nach seinem Einsatzkoffer und machte sich auf den Weg. Eine knappe Stunde später war er am Ziel und ließ sich auf dem Polizeiboot von der Kommissarin über die bisherigen Erkenntnisse informieren. Offenbar handelte es sich um einen frischen Leichnam, also würde er heute ohne odor mortis, den fürchterlichen Fäulnisduft in Kleidung und Haaren, nach Hause kommen.
Am Bergungsort hatte man den kleinen Strandabschnitt abgesperrt und den Toten mit einer Plane bedeckt.
Schwarz führte nun die Leichenschau durch, wie er es schon tausendmal in seinem Leben getan hatte. Er fand eine frische männliche Leiche, geschätztes Lebensalter um die fünfzig Jahre, Körpergröße ungefähr 180 Zentimeter, mit kräftigem, muskulösem Körperbau. Die Zeichen des Todes registrierte er in Form einer leichten, offenbar beginnenden Totenstarre und schwach ausgebildeter violetter Totenflecke. Der Körper wies noch spürbare Restwärme auf, am deutlichsten in den Achselhöhlen. Die rektale Temperaturmessung ergab 32 Grad. Die Totenflecke waren schwach an Gesicht, Hals- und Schultervorderseite sowie Unterschenkeln und Füßen erkennbar, sie waren aber auch spärlich an der Körperrückseite des auf dem Rücken liegenden Toten ausgebildet. An den Finger- und Zehenspitzen war die Haut leicht weißlich verfärbt und gequollen, was Schwarz als beginnende Waschhautbildung festhielt. Alle Befunde sprach er in knappen, routinierten Formulierungen in sein Diktiergerät. Er vermerkte, dass es keine gröberen Verletzungen gab.
Zu seinen diagnostischen Erwägungen über die Ursache des Todes im Wasser gehörte auch die Prüfung eines charakteristischen Geruchs an der Leiche, beispielsweise nach Alkohol. Nachdem er an Mund- und Nasenöffnung geschnuppert hatte, wiederholte er diese Prozedur, wobei er kräftig auf den Brustkorb drückte – doch auch dabei war nichts Auffälliges zu riechen. Es traten jedoch kleine weißliche Schaumblasen aus Mund und Nase heraus, die Prof. Schwarz als »Schaumpilz vorhanden« zusammenfasste. Bei seiner abschließenden Inspektion von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen fand er doch noch eine Besonderheit: zirkuläre Hautrötungen oberhalb der Fußknöchel. Sie waren drei bis fünf Zentimeter breit, unscharf begrenzt und von annähernd gleichmäßiger Farbintensität. Bei Lupenbetrachtung waren auch feine Hautabschürfungen zu erkennen, die kopf- wie fußwärts mehrere Zentimeter über die Rötungen hinausreichten.
Schwarz richtete sich auf, um den Kommissaren seine erste Einschätzung vorzutragen. »Wo ist denn Ihr großer Chef?«, fragte er die Marotzke. Doch da erblickte er Granow schon, wie der über den kleinen Strandabschnitt geeilt kam.
Die beiden begrüßten sich herzlich. »Grüß dich, alter Mordermittler!«, rief Schwarz. »Grüß dich, alter Leichenzerteiler!«, rief Granow zurück. Der Rechtsmediziner und der Kommissar waren etwa derselbe Jahrgang. Sie hatten sich trotz unterschiedlicher Biographie schnell verstanden, wozu sicherlich ihre preußische Pflichtauffassung, gepaart mit Berliner Direktheit und einem Hang zu schwarzem Humor, beigetragen hatte.
»Schön, dass du gleich gekommen bist! Jetzt muss ich nicht doppelt predigen«, meinte Schwarz. »Also, eines ist schon jetzt klar: Der Mann ist ertrunken. Der Tod dürfte unter Berücksichtigung einer Wassertemperatur von etwa 20 Grad und der Lufttemperatur von ungefähr 25 Grad vor etwa vier Stunden eingetreten sein.«
»Das deckt sich mit den Angaben unseres Ohrenzeugen Reinhalter«, sagte Granow.
»Prima«, stellte Schwarz fest, »dann bleibt nur noch die Kleinigkeit zu klären, warum dieser offenbar kräftige und sportliche Mann ertrunken ist. Ich sehe da Befunde an den Unterschenkeln, die mir gar nicht gefallen. Der Mann wird doch nicht gefesselt gewesen sein? Oder wurde bei der Bergung ein Seil um die Füße geschlungen? Die Hautrötungen imponieren allerdings durchaus als vital, also zu Lebzeiten beigebracht.«
»Den Ablauf der Bergung werden wir nochmals prüfen«, meinte Granow. »Aber was machen wir mit Reinhalter und dem angeblichen Hilferuf des Opfers? Wir sind uns doch einig, dass wir mit der Obduktion nicht warten sollten.« Als Schwarz dazu nickte, fuhr Granow fort: »Ich kläre das gleich mit der Staatsanwältin. Wann wollen wir uns treffen?«
Schwarz packte seinen Einsatzkoffer zusammen. »Ich rufe unseren Leichenwagen und alarmiere das Obduktionsteam. Wir sehen uns um 21 Uhr im Sektionssaal!«
Frisch gestärkt durch einen schnellen Imbiss an einer Currywurstbude erreichte Prof. Schwarz das Rechtsmedizinische Institut gegen 20.45 Uhr. Der Sektionsassistent Peter Schulz hatte schon alle Vorbereitungen getroffen, und Frau Dr. Schöneberg stand bereits eingekleidet im Sektionssaal. Mit einer kurzen Begrüßung eröffnete der Professor seine Spätschicht. Die Assistentin legte die Schnitte, der Sektionsassistent half dabei, und Schwarz diktierte akribisch alle Befunde. Wie jedes Sektionsprotokoll bestand auch dieses aus den Abschnitten »A. Äußere Besichtigung«, »B. Innere Besichtigung« und »C. Vorläufiges Gutachten«.
Gegen 22.30 Uhr – Prof. Schwarz diktierte gerade den Zustand der Bauchorgane – trafen die Kommissare Granow und Marotzke ein.
»Ich soll dir einen schönen Gruß von der Staatsanwältin bestellen«, richtete Granow aus. »Sie wird nicht kommen. Ich soll ihr stattdessen das Wesentliche telefonisch übermitteln.«
»Das soll mir recht sein. Kommt näher, ihr habt auch noch nicht viel versäumt«, erwiderte Schwarz.
Kurz nach 23 Uhr war die Sektion beendet, und Prof. Schwarz begann mit dem Diktat des »Vorläufigen Gutachtens«. Zuvor rief er den Kriminalisten zu: »Achtung, ihr könnt jetzt gleich das zusammenfassende Resultat unserer Bemühungen hören!«
I. Sektionsergebnis Leichnam eines unbekannten, ca. 50 Jahre alten, 182 cm großen und 83 kg schweren Mannes. Zeichen des Ertrinkens: hochgradige Überblähung des Lungengewebes (Emphysema aquosum). Schaumige Flüssigkeit in Mund, Nase und Luftröhre. Ertrinkungsflüssigkeit in der Keilbeinhöhle. Dreischichtung des wässrigen Mageninhalts (Wydler’sches Zeichen). Zeichen des Aufenthalts im Wasser: beginnende Waschhautbildung an Finger- und Zehenspitzen. Näher beschriebene zirkuläre Hautrötungen und -abschürfungen beider Unterschenkel, jeweils kräftig unterblutet. Hinweise zur Identifizierung: Zustand nach länger zurückliegender operativer Blinddarmentfernung (Appendektomie). Lückenhaftes Gebiss mit einzelnen Metallkronen (siehe Schema Zahnstatus). Buntgestreifte Badehose der Marke Aquos (siehe Fotomappe). Leichte allgemeine Arteriosklerose mit teils mittelgradiger Sklerose der Herzkranz- und Hirngrundschlagadern. Leichte Leberverfettung.
II. Todesursache: Ertrinken.
III. Ergebnis der Alkoholbestimmung aus Schenkelvenenblut und Urin nach zwei Methoden: Venenblut 0,0 mg/g Ethanol, Urin 0,0 mg/g Ethanol.