Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky
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»Und wenn nicht? Ohne etwas Handfestes gegen ihn wird er kein Geständnis ablegen. Und wir stehen dann als Idioten da.«
»Wenn wir bei ihm auftauchen, kommt das einem Warnschuss gleich. Er würde sich sicherlich hüten, wieder zuzuschlagen.«
»Weiß man’s, ob nicht doch dunkle Triebkräfte im Spiele sind?« Granow überlegte. »Mir wäre schon lieber, wir sorgen dafür, dass dieser Mann, der sich wahllos irgendwelche Opfer aussucht, im Knast oder meinetwegen in der Psychiatrie landet – jedenfalls sicher verwahrt. Doch dafür brauchen wir sein Geständnis. Oder aber wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen.«
Theresa Marotzke hatte eine Idee. »Wir besorgen uns Kampfschwimmer der Bundeswehr und setzen sie als Lockvögel ein.«
So exotisch dieser Vorschlag anfangs auch schien, die Vorgesetzten stimmten schließlich zu. Die Aktion endete jedoch ohne Erfolg. Keiner der eingesetzten Männer wurde angegriffen, so dass man sich am Ende der Badesaison doch entschloss, Affinghausens Hausboot zu durchsuchen.
Mit der Staatsanwältin Dr. Monique Müller-Linthe an der Spitze und einem Durchsuchungsbefehl in der Tasche rückte man in Krampenburg an. Affinghausen war nicht auf seinem Hausboot, aber die Türen ließen sich leicht öffnen. Und die Kommissare hatten Glück! Sie fanden nicht nur eine komplette Taucherausrüstung, sondern auch Affinghausens Tagebuch. Das enthielt wirre Sätze und Zeichnungen, die alles bewiesen. Unter anderem war zu lesen:
Im Brunnen sitzt der Hakenmann. Was macht er in dem Wasser drin? Er lauert mit der Hakenstange, auf dass er kleine Kinder fängt.
Dieses Greuelmärchen hat mir meine Großmutter auf dem Bauernhof in der Prignitz oft erzählt, damit ich um den Brunnen einen großen Bogen machte und ja nicht hineinfiel. Ich gehe die Sache jetzt wissenschaftlich an. Die langen Vorbereitungen haben sich gelohnt, niemand ist mir auf die Schliche gekommen. Wie meine Opfer gestrampelt haben, herrlich! Nun bin ich selbst ein Hakenmann.
Die Kommissare machten sich sofort zur Humboldt-Universität auf, um den verrückten Arnulf Affinghausen festzunehmen. Doch als sie in den Hörsaal stürmten, stürzte der Assistent ans Fenster und versuchte, sich mit einem Sprung auf die Straße in Sicherheit bringen.
Im nächsten Sommer sollte es um Schmöckwitz herum keine Badeunfälle mehr geben. Denn Arnulf Affinghausen überlebte den Sturz aus dem Fenster seines Hörsaals nicht.
***
Schon auf der Heimfahrt von der Sektion der Wasserleiche aus der Dahme dachte Schwarz über seine Fälle nach, bei denen in den vergangenen Jahrzehnten Wasser ein Rolle gespielt hatte.
Wasser – im Sinne von Gewässer – war, kriminalistisch betrachtet, höchst vielseitig: Es konnte Tötungsmittel, Tatort, Transportmittel und Versteck sein. Wurde ein Toter aus dem Wasser geborgen, so war die Frage zu klären, ob es Tötung, Selbsttötung oder ein Unfall war, wobei die Unfälle statistisch deutlich überwogen. Zur Klärung, die schwierig und gelegentlich sogar unmöglich sein konnte, mussten alle Ermittlungsergebnisse, Beobachtungen von Zeugen sowie mitunter Gutachten verschiedener Experten herangezogen werden. Das konnten neben Kriminalisten und Rechtsmedizinern unter Umständen auch Tauchexperten, Meereskundler oder Schifffahrtsexperten sein.
Der Mensch war eben kein Fisch. Wenn die Sauerstoffzufuhr drei bis fünf Minuten unterbrochen wurde, trat der Tod ein. Im Wasser war dies also ein Erstickungstod. Der Begriff »Ertrinken« war irreführend und historisch begründet. Er ging wohl auf den griechisch-römischen Arzt Galen zurück. Zwar schluckt der Ertrinkende in der Regel auch Flüssigkeit, aber er stirbt nicht durch Magenüberfüllung, sondern durch Eindringen der Ertrinkungsflüssigkeit in die Luftwege mit Verhinderung des Sauerstoffaustauschs in der Lunge.
Ja, wenn wir unsere Kiemen noch hätten, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu nutzen!, sagte sich Schwarz. Wie viele Menschen wissen wohl, dass wir in unserem Hals-Nasen-Ohren-Bereich noch Reste von Kiemenbögen und -spalten besitzen? Die stammen aus unserer Embryonalperiode und sind damit Zeugen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung aus Meeresbewohnern. Der Zoologe Ernst Haeckel hatte dies genial in seinem biogenetischen Grundgesetz formuliert: Die Ontogenese ist eine kurze Wiederholung der Phylogenese.
Schwarz erinnerte sich an junge Männer, gute Schwimmer, die ihre Kräfte überschätzt hatten und überhitzt ins Wasser gesprungen waren. Eine besonders üble Rolle spielte immer wieder die Alkoholisierung. Schwarz wurde bei privaten Gesprächen wie in seinen Vorlesungen nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von Trunkenheit und Badefreuden hinzuweisen. Die Erfahrungswerte waren klar, die pathophysiologischen Mechanismen beim lautlosen Untergehen Betrunkener hingegen weithin unerforscht, und die Einsicht seiner Zuhörer erschien ihm auch meist begrenzt.
In Gerichtsprozessen war bei Todesfällen im Hallen- oder Strandbad die Pflichtverletzung von Aufsichtspersonen verhandelt worden, häufig ohne oder mit widersprüchlichen Zeugenbeobachtungen. Die Todesursache war rechtsmedizinisch meist zu klären, nicht immer aber der Hergang des Geschehens. Denn dem finalen Ertrinken konnten unterschiedlichste pathophysiologische Vorgänge vorausgegangen sein. Und es gab auch Todesfälle im Wasser ohne Ertrinken, die durch natürliche Todesursachen eintraten und im Sammelbegriff »Badetod« zusammengefasst wurden.
Auch die schrecklichen Querschnittslähmungen mit oder ohne Todesfolge fielen Prof. Schwarz ein. Sie waren durch einen Sprung in zu flache, meist unbekannte Gewässer entstanden und betrafen in der Regel junge, sportliche Schwimmer. Auch hierzu erinnerte Schwarz sich an schwierige Gerichtsverfahren. So war ein junger Mann nach einem Sprung vom Startblock eines öffentlichen Strandbades mit einer hohen Querschnittslähmung bewusstlos geborgen worden. Er überlebte die Halswirbelfraktur, war aber an den Rollstuhl gebunden, berufsunfähig geworden und hatte den Betreiber des Bades auf Schadenersatz verklagt. Als Gutachter hatte Schwarz die Weltliteratur zu dem Thema »Wassertiefe und Halswirbelsäulenverletzung« studiert. Der Beklagte verwies darauf, dass die Wassertiefe bei dem betreffenden fließenden Gewässer schwankte. Letztlich war das Faktum der Wirbelfraktur infolge Stauchung und Überstreckung der Halswirbelsäule im konkreten Fall bei geringer Sprunghöhe nur durch Bodenkontakt und damit durch unzureichende Wassertiefe zu erklären.
In einem weiteren Fall von Querschnittslähmung in einem Strandbad war die Entstehung einzig durch Kopfsprung mit Auftreffen des Verletzten auf einen anderen Badenden möglich. Der bei der Obduktion anwesende Staatsanwalt einer brandenburgischen Kreisstadt hatte große Behälter mitgebracht, um Wasser aus dem Strandbad auf tödliche Gifte untersuchen zu lassen. Nachdem Schwarz und seine Kollegen geklärt hatten, dass die weiteren rund zweihundert Badegäste wohlauf waren und der Tote an einer hohen Querschnittslähmung gestorben war, konnte auf die toxikologische Analyse verzichtet werden.
Der Rechtsmediziner wusste, dass neben der Temperatur auch die Zusammensetzung der Ertrinkungsflüssigkeit – beispielsweise der Salzgehalt (Süß- oder Salzwasser) – für die Ausbildung der Leichenbefunde bedeutsam waren. Mit Salzwasserleichen hatte man als Rechtsmediziner in Berlin-Brandenburg naturgemäß wenig praktische Erfahrung.
Ein besonders unschönes Kapitel waren die Wasserleichen im Sommer. Schwarz konnte sich noch gut an die zurückliegenden Jahre im Sektionssaal ohne Klimaanlage erinnern – doch mittlerweile gehörte das glücklicherweise der Vergangenheit an. Bei langer Liegezeit im Wasser, speziell bei hohen Temperaturen, konnten die Fäulnisveränderungen so hochgradig sein, dass Körperoberfläche wie innere Organe kaum noch zu beurteilen waren. Meist war auch eine Identifizierung durch Inaugenscheinnahme des Leichnams unmöglich, da Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen verfärbt und aufgetrieben waren. Dazu kam der penetrante Geruch. Weitere Erschwerungen entstanden durch sogenannte Algen- oder Schlammrasen auf der