Berliner Leichenschau. Horst Bosetzky
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Als die Kommissare wieder auf der Straße standen, war für Granow klar, was jetzt zu tun war. »Wir müssen Professor Schwarz zu Rate ziehen, der soll sich die Leiche der Löwe mal genauer ansehen.«
***
Als die Mordkommission im Rechtsmedizinischen Institut anrief, stand Prof. Robert Schwarz gerade im Hörsaal. Die Vorlesung »Rechtsmedizin für Studierende der Rechtswissenschaft« gehörte zu seinen Lieblingsaufgaben. Die Studenten kamen gerne zu der fakultativen Vorlesung und waren entsprechend interessiert und diszipliniert. Auch das weibliche Dreigestirn war anwesend, und so ging ihm der Unterricht besonders leicht von der Hand. »Die drei Grazien«, wie er sie für sich nannte, saßen immer auf denselben Plätzen in der zweiten Reihe, waren auffallend hübsch und strahlten ihn an.
Eigentlich duldete Schwarz während seiner Vorlesung keinerlei Störung. Kriminalhauptkommissar Granow hatte aber die Sekretärin wohl so barsch angewiesen, dass sie seinem Drängen nachgab und in den Hörsaal lief. Dort legte sie ihrem Chef mit aufgeregten Gesten einen Zettel auf das Pult.
Schwarz unterbrach kurz die Vorlesung und studierte die Mitteilung. »Liebe Studentinnen und Studenten«, sagte er dann, »ich muss die Vorlesung leider vorzeitig abbrechen, denn ich habe hier eine dringende Anforderung von der Mordkommission. Jetzt gäbe es die praktische Anwendung des Gehörten, nur kann ich Sie leider zu der Untersuchung nicht mitnehmen. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Doktor Krell wird ihnen noch die restlichen Folien zur Leichenschau zeigen. In der nächsten Woche fahren wir dann mit dem Thema Scheintod, lateinisch vita minima, fort. Bis dann!«
Schwarz schlürfte in der Kantine noch schnell eine Tasse Kaffee, griff seinen »Tatortkoffer« und fuhr dann mit seinem Wagen zum Krematorium Baumschulenweg. Er kannte es gut, hatte er doch dort in früheren Jahren die gesetzlich vorgeschriebene zweite Leichenschau vor der Kremation durchgeführt. Die Leiterin des Hauses hatte sein Institut vor einiger Zeit zu einer Besichtigung eingeladen, nachdem das Krematorium mit großem Aufwand neu erbaut worden war. Die Rechtsmediziner hatten damals ganz schön gestaunt und das alte Krematorium nach dem Einzug moderner Architektur kaum wiedererkannt. Auch die neueste Technik mit dem elektronischen Lager- und Transportsystem hatte die Mediziner beeindruckt.
Nun war er also wieder hier, um sich die Leiche eines Blitzschlagopfers anzuschauen. Ein Mitarbeiter des Krematoriums wartete bereits auf ihn und hatte den Leichnam der Verena Löwe bereitgestellt. Schwarz wunderte sich, warum die Leiche hier gelandet war, obwohl sie in der Nähe von Potsdam gefunden worden war. Aber vielleicht gibt es bei den Krematorien ja Preisunterschiede, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen, dachte er belustigt. Dann wandte er sich seiner Arbeit zu.
Die Tote lag in einem schlichten Holzsarg, wie es bei Feuerbestattungen üblich war. Sie war bereits entkleidet, ihre Kleidung lag zu einem Bündel zusammengepackt am Fußende des Sargs.
Prof. Schwarz zog rasch Kittel und Handschuhe an. Vor der Inspektion des Leichnams prüfte er die Identität. Die Beschriftung an Sarg und Zehenkarte lautete Löwe, Verena, Geburts- und Todestag stimmten mit dem Totenschein und seinen Angaben überein. Auf dem Totenschein war als Todesursache Blitzunfall vermerkt, und bei der Todesart war Natürlicher Tod angekreuzt. Da haben wir es wieder!, dachte Schwarz. Seit wann war ein Blitztod ein natürlicher Tod? Sicherlich stammte der Blitz aus der natürlichen Umwelt – »natürlich« aber war nur der Tod aus innerer krankhafter Ursache. Aus seinen langjährigen Lehrerfahrungen wusste Schwarz, dass dies eher Kriminalisten und Juristen klarzumachen war als Medizinern. Darüber hatte es auch mit Kollegen aus Kliniken wie aus Pathologischen Instituten schon manche Debatte gegeben. Bei der Einordnung eines Todesfalls als natürlicher Tod war von dem Leichenschauarzt keine Meldung an die Polizei erforderlich, und so war die Tote von dem Bestatter abgeholt und ins Krematorium gebracht worden.
»So«, murmelte Schwarz, »wo sind denn nun die Spuren des Blitzschlags?« Als Erstes nahm er sich die Kleidung und die Joggingschuhe vor und suchte nach Zerreißungen, Verbrennungen oder Durchlöcherungen – doch er fand nichts Auffälliges. Er vermerkte auch, dass die Kleidung nicht durchfeuchtet war. Sorgfältig inspizierte er Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, wobei ihm der Krematoriumsmitarbeiter beim Umwenden der Toten half. Das Kopfhaar war blutig durchtränkt und das gesamte Gesicht stark blutverschmiert. An der rechten Hinterkopfseite fand sich eine grobe, blutige Platzwunde. Darunter ertastete Schwarz Knochenbruchstücke, die zum Teil tief in das Gehirn hineingetrieben waren. »Hier haben wir wohl die Todesursache«, schlussfolgerte Schwarz.
Dann untersuchte er weiter Haut und Schleimhäute des Gesichts, besonders gründlich den Hals, danach Rumpf, Arme und Beine. Nachdem er keine blitztypischen Hautrötungen oder Hautverbrennungen gefunden hatte, griff er zu seiner Lupe. Akribisch suchte er nach Zeichen von Hitzeeinwirkung an den Kopfhaaren, danach an den Körperhaaren. Auch hier war nichts Auffälliges festzustellen. Schwarz wandte sich an den Krematoriumsangestellten. »Herr Schulz, die Leiche darf auf keinen Fall verbrannt werden. Sie kommt in unser Institut – das wird eine gerichtliche Obduktion. Ich verständige sofort die Mordkommission. Meine Leute werden die Frau Löwe noch heute abholen.« Dann notierte Schwarz auf seinem Befundblock:
Offene Schädel-Hirn-Verletzung am Hinterkopf mit großer Platzwunde und Impressionsfraktur. Sonst keine äußeren Verletzungen, insbesondere keine Kampf- oder Abwehrspuren, keine Würge- bzw. Drosselmarken, vor allem keine Zeichen elektrischer Energie.
Anschließend rief Schwarz die Mordkommission an. Als sich sein alter Freund Granow meldete, sagte er: »Hallo, Gunnar, ich bin gerade im Krematorium bei Frau Verena Löwe, eurem angeblichen Blitzschlagopfer. Den Blitzunfall könnt Ihr vergessen. Beantragt gleich mal eine Obduktion beim Staatsanwalt! Die Frau hat eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung, und es sieht ganz nach einem Schlag auf den Kopf aus. Mich würde ja schon interessieren, wie die Theorie vom Blitzschlag zustande gekommen ist und wie die Frau unter den getroffenen Baum kam. Meine Sekretärin ruft euch an, wenn wir mit der Sektion beginnen.«
Granow wollte jedoch rasch Ergebnisse sehen und drängte auf eine Sofortobduktion.
»Also gut«, gab Schwarz nach, »wenn ihr von der ›M‹ ruft, sind wir selbstverständlich immer zur Stelle. Na, dann fangen wir heute Nachmittag um halb drei an.«
Inzwischen war es dreizehn Uhr, und Schwarz knurrte der Magen. Geistige Nahrung reicht eben doch nicht, dachte er schmunzelnd. Wenn ihm seine belastende Tätigkeit mit Verletzten oder Getöteten den Appetit verderben würde, wäre er längst verhungert. Also auf zur nächsten Bäckerei! Natürlich hätte er auch in der Mensa des Uniklinikums essen können, doch dahin ging er immer seltener. Das lag nicht etwa an der Qualität des Mittagstisches, sondern daran, dass er dort kaum in Ruhe essen konnte. Alle Störenfriede, ob Kollegen, Mitarbeiter oder Studenten, nutzten die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Prof. Schwarz erreichte gegen vierzehn Uhr sein Institut. Der Leichnam von Frau Löwe war noch nicht eingetroffen, und so blieb ihm noch etwas Zeit. Schwarz ging in sein Dienstzimmer, fragte seine Sekretärin nach wichtigen Anrufen und sah den Posteingang durch.
Gut zehn Minuten später rief der Sektionsassistent Walter Mann an und meldete die Ankunft der Leiche. Als Schwarz in den Sektionssaal kam, erwartete ihn Dr. Krell, der zweite Obduzent, bereits in voller Montur. »KHK Granow ist auch soeben eingetroffen«, sagte Krell. »Er trinkt im Sektionssekretariat noch einen Kaffee.«
»Prima, dann können wir ja anfangen«, meinte Schwarz, und das eingespielte Team begann mit der Obduktion.
Zuerst diktierte Prof. Schwarz die »Äußere Besichtigung« in sein Diktaphon. Als er sich der Schädelverletzung zuwandte, erschien Kommissar Granow mit dem Staatsanwalt Wolf. Nach kurzer Begrüßung setzte Schwarz sein Diktat fort. Detailliert wurden alle Körperregionen beschrieben, insbesondere der Kopf. Die Verletzung am Hinterkopf wurde vermessen, danach