Namenlose Jahre. Marina Scheske
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Der Brief von ihr aus Freiburg, dieser blumig duftende Brief, er lag gestern Morgen im Kasten und knisterte verheißungsvoll. Alles ist wunderbar, so schrieb sie begeistert. Auch mussten sie nicht in ein Lager, Verwandte hatten sie vorerst aufgenommen und er soll so schnell wie möglich nachkommen.
Losmarschiert ist er, den Brief in der Tasche, ein törichtes Lächeln auf den Lippen.
Natürlich musste er ewig warten, dabei saß er allein im Flur. Er starrte Honeckers Bild an, der wie ein gütiger Vater auf ihn herabschaute und als er den Blick des Staatsratsvorsitzenden nicht mehr ertragen konnte, da zählte er die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Es waren acht, das weiß er noch.
Endlich öffnete sich eine Tür, ein Mann steckte seinen Kopf heraus und forderte ihn auf, einzutreten. Schon beim Klang seiner ersten Worte dachte er, diese Geschichte hier nimmt kein gutes Ende. Da stand etwas im Raum, eine Wolke aus Antipathie und Misstrauen. Dicke Luft. Er hat alles vermasselt und was unmittelbar danach passierte, erscheint ihm nun so irreal wie ein Albtraum.
… Nein, es ist wahr, es ist wirklich geschehen. Sie nahmen mich in Haft. So heißt es doch, oder? Sie nennen es Sicherungsverwahrung. Er zieht seine Hände aus den Taschen und betrachtet kopfschüttelnd seine Handgelenke. Noch immer sieht man die rot unterlaufenen Abdrücke der Handschellen.
„Getobt haben soll ich“, flüstert er heiser, „nie im Leben würde ich so etwas tun.“
Sein Blick schweift über den Fluss. Ein Schleppkahn schippert langsam vorbei, hoch beladen mit Kies. Auf dem Deck flattert Wäsche im Wind und ein kleiner Hund steht bellend an der Reling. Vorn am Ufer neben der Trauerweide sieht er den alten Kiosk, an dem er sich manchmal ein Bier holt, wenn er hier angelt. Alles sieht genau so aus, wie es an jedem anderen beliebigen Tag am Fluss aussieht. Er schaut hinüber zu den Schwänen, die ihre langen Hälse gemächlich ins Wasser tunken und er sieht, wie sich ganz weit hinten über der Auenlandschaft graue Wolken zu Haufen ballen. Sicher gibt es drüben in Polen bald ein Gewitter.
Angst steigt in ihm auf und er kann sie nicht abschütteln. Er fühlt sich ihr ausgeliefert und alles Wohlvertraute, was er sieht, wird ihm zur trügerischen Kulisse. Er denkt an die Nacht im Keller der Stasi. Die gleißende Helle eines Scheinwerfers, dann die Dunkelheit, der erste Schlag in den Magen. ...
Zitternd lehnt er sich zurück und ein Schwindel befällt ihn. Seine Hand betastet die rechte Schläfe, der pochende Schmerz breitet sich erneut aus.
„Nicht auf den Kopf!“, brüllte jemand. Eine Tür schlug zu, ein Schlüssel drehte sich im Schloss und es wurde still.
Er hat unterschrieben. Da lag das Formular vor ihm auf dem Schreibtisch und man reichte ihm einen Kugelschreiber. Hatte er mit seiner Unterschrift nur bestätigt, dass sie ihn nicht schlugen, so wie es üblich ist? Oder unterschrieb er eine Verpflichtungserklärung?
Sie werden ihn holen, gleich von der Arbeit weg. Er muss seine Kollegen bespitzeln und der Stasi Bericht erstatten. Er kann nicht bleiben, jetzt nicht mehr. Und wenn sie ihm schon auf den Fersen sind?
Hastig steht er auf und schaut sich um. Weit und breit ist niemand zu sehen. Der kleine Kiosk öffnet erst am Nachmittag und auch dahinter scheint sich niemand zu verbergen. Nach Hause will er, ein paar Sachen holen. Nein, das ist riskant, bei diesem Wetter sind zu viele Leute in der Stadt unterwegs. Niemand darf ihn sehen.
Wieder flammt der verdammte Schmerz auf. Diesmal fühlt es sich an, als würde jemand mit einem Messer in seiner Schläfe bohren. Tief atmet er ein und stößt pustend die Luft aus, während er überlegt, wie er am unauffälligsten zum Bahnhof kommt. Er geht in Richtung Schlachthof, fernab von allen Geschäften fühlt er sich sicherer. Auf einmal hält er inne, bleibt stehen und seine Hand fährt in die Brusttasche des Parkas. Ein breites Grinsen zeigt sich auf seinem Gesicht. Ich habe Glück, denkt er und das verdanke ich meiner Liederlichkeit.
In seiner Tasche befindet sich eine größere Geldsumme, fast sein ganzes Monatsgehalt trägt er bei sich, es steckt noch in der Lohntüte. Auch den Brief von Susanne, ihr Bild und sein kleines Notizbuch findet er, doch das Wichtigste fehlt.
„Schöne Scheiße“, flüstert er, „damit haben sie dich. Du sitzt in der Falle.“
Sein Personalausweis liegt auf der Polizeiwache.
Wut steigt in ihm auf, er kickt einen Stein, kollernd fliegt er auf die Fahrbahn. Während er hinterher schaut, breitet sich plötzlich ein ungeheuerlicher Gedanke in ihm aus. Er ist ein Nichts, ein Niemand. Wie sollen sie ihn finden, wie ihn kriegen, wenn sie ihn jagen?
Er verschwindet für immer. Kein Ausweis, kein Name, keine Identität. Namenlos wird man zu nichts und Nebel. Man ist frei wie der Wind, vogelfrei.
Sein Blick streift über die Straße und tastet hastig die Fenster eines alten Mietshauses ab. Alles ist still, kein Mensch, kein Fahrzeug weit und breit. Schnell zerreißt er die Seiten seines Notizbuches und dann, nach anfänglichem Zögern, mit zitternder Hand auch Susannes Bild und ihren Brief.
Es ist ganz einfach, denkt er. Ich nehme den Zug nach Berlin. Von da aus fahre ich bis Dresden und dann gehe ich über die Grenze. Möglichst in der Nacht. Und dann ab nach Prag.
... Da ist ein Abfallkübel. Ich muss hineinlangen, es nützt ja nichts. Ich muss den Dreck beiseiteschieben und schnell die Schnipsel hineinwerfen ... Sie dürfen nicht oben liegen, der Kübel ist fast voll. Überall haben sie ihre Leute, sicher auch bei der Müllabfuhr.
Auf der Bahnhofstoilette trinkt er in gierigen Zügen kaltes Wasser aus dem Hahn.
Dann kämmt er sein schulterlanges Haar mit feuchtem Kamm und bindet es mit einem Gummi im Nacken zusammen. Nun noch die Sonnenbrille, gut, dass er sie bei sich hat. Zufrieden betrachtet er sich im Spiegel. Für einen kleinen Moment steigt Abenteuerlust in ihm auf, alles erscheint ihm nun als ein Spiel und er bedauert, keinen Hut zu besitzen. So einen schwarzen, breitkrempigen, dann wäre die Maskerade perfekt.
Eine knarrende Ansage aus dem Lautsprecher reißt ihn aus seiner selbstgefällig träumerischen Betrachtung.
Überall auf den Bahnhöfen treibt sich Bereitschaftspolizei herum. Gerade jetzt, wo so viele abhauen. Und auf Typen wie mich sind sie besonders scharf. ... Er nimmt die Brille wieder ab und schiebt den Haarschwanz unter den Kragen seines Parkas. Sein Blick durchstreift den Schalterraum. Er ist allein, dennoch fühlt er sich äußerst unbehaglich. Hinter den Säulen scheint niemand zu lauern, aber man weiß ja nie, die sind doch überall. Besser wäre es, er könnte in der Menge untertauchen. ... Noch besser, dies alles wäre nie geschehen.
Aber dieser blöde Bulle hat ihn provoziert, vom ersten Moment an. Er wartete doch nur darauf, ihn in die Pfanne zu hauen. Vom Arbeiter- und Bauernstaat faselte er, betrachtete dabei seine gefeilten Fingernägel, und dann dieses arrogante Lächeln.
Arbeiter- und Bauernstaat. Dieser Arsch hat nie gearbeitet und wir Malocher schaffen die Werte. Dafür treten sie uns in den Dreck, diese Schweine. ... Ich muss mich zusammenreißen, da vorn ist der Fahrkartenschalter.
Löse ich durch bis Dresden? Nein, das ist zu auffällig, lieber bis Alex. Die Frau hinterm Schalter, die kennt mich vielleicht. Wenn sie mich fragt, dann sage ich, ich will einkaufen fahren zum Alexanderplatz. Das machen ja viele. Ich werde ihr was von Jeans erzählen, die es dort im Warenhaus geben soll. ... Oder noch besser, ich will mir einen Farbfernseher