Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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mieser kleiner Handlanger“, sagt er leise, „genau das bin ich.“

      Im Zug fühlte er sich sicherer. Er konnte sehen, wie er vorwärts kam, weg von Schwedt, raus aus dem Dunstkreis der Stadt. Unschlüssig bleibt er stehen, schaut sich um und findet, was er sucht. Ein Zeitungskiosk, dort wird es Landkarten geben. Es ist zu gewagt, weiter mit dem Zug zu fahren, in den Grenzbezirken gibt es Kontrollen. Jeder weiß es, auch in Schwedt reden die Leute darüber.

      Ein Mann steht am Kiosk. Er trägt eine schwarze Lederjacke und eine graue Hose. An seinem Handgelenk hängt ein kleines Täschchen, sein Haar ist korrekt geschnitten und ordentlich gescheitelt. Gerhard beschleunigt seinen Schritt und macht einen großen Bogen um den Kiosk. Auch ohne Karte werde ich ankommen, denkt er. Immer nach Süden, irgendwie.

      Sein Magen knurrt. Ziellos läuft er in die nächste Gasse hinein. Erst muss er was essen, dann sich ein bisschen ausruhen, nur ein paar Minuten, vielleicht an der Elbe auf einer Bank sitzen. Nein, da ist er allein, das ist zu gefährlich. Dort vorn ist ein Wochenmarkt, farbenprächtige Astern werden zum Kauf angeboten und beim Anblick der Blumenpracht denkt er an Susanne. Er erinnert sich an jenen Tag vor einem Jahr. Es war Spätsommer und er kam zu ihr mit einem bunten Strauß Astern, um sie zu fragen, ob sie seine Frau werden möchte. In Ermangelung eines Ringes schenkte er ihr ein Kettchen aus Bernstein. Gold konnte er nicht auftreiben und Trauringe erhält man nur gegen Goldabgabe.

      Er denkt an diesen Tag voller Glück und seine Augen füllen sich mit Tränen. Schnell setzt er die dunkle Brille auf, geht zu einem Bratwurststand und stellt sich in die Schlange.

      Am Rande des Marktes steht eine Bank. Müde setzt er sich hin und lehnt sich zurück.

      Die Sonne streichelt sein Gesicht und er schließt die Augen. Nur ein bisschen ausruhen will er sich und dann laufen, immer weiterlaufen. Bald wird es dunkel, er hat keine Taschenlampe dabei, noch nicht mal ein Feuerzeug besitzt er, seit einem Jahr raucht er nicht mehr.

      Egal, es wird schon klappen, Hauptsache erst mal raus aus der Stadt. Vielleicht dann irgendwo in einer Scheune übernachten, zur Not im Wald. Ich schaffe das, andere schaffen das auch.

      Beim Aufstehen wird ihm schwindelig, schnell setzt er sich wieder hin. Erneut meldet sich der pochende Schmerz. Ihm wird übel und er denkt, das kommt sicher vom hastigen Essen.

      Einen seltsamen, metallischen Geschmack hat er im Mund, es ist der Geschmack des Blutes. Hastig spuckt er seinen Speichel aus und schaut zu Boden. Offensichtlich hat er einen Backenzahn verloren.

      „Den habe ich nicht einfach so verloren, meine Zähne sind in Ordnung. Den haben sie mir ausgeschlagen, diese Schweine“, murmelt er.

      Schnell schaut er sich um, doch niemand nimmt Notiz von ihm. Die Wut mildert seinen Schmerz und er schließt erneut die Augen. Die Sonne tut ihm gut und er beschließt, noch eine Weile zu bleiben. Einfach nur dasitzen will er und an nichts denken.

      Am Marktstand gegenüber steht eine ältere Dame. Während sie wartet, bis sie an der Reihe ist und ihr Korb mit Äpfeln gefüllt wird, lässt sie ihren Blick über den Platz schweifen. Sie sieht den jungen Mann auf der Bank. Ein seltsames Gefühl steigt in ihr auf. Übermächtig freudig und gleichzeitig schmerzvoll überfällt es sie. Sie denkt an Herfried, an ihren toten Sohn.

      Die Verkäuferin reicht ihr den Korb und wieder schaut sie hinüber zur Bank. Sie sieht, wie der Mann die Augen aufschlägt, sich reckt und streckt und dann zusammenfährt. Mit beiden Händen hält er seinen Kopf fest, sein Gesicht ist schmerzverzerrt.

      Unter einer Linde bleibt sie stehen. Sie hofft, dass er sie im Schatten des Baumes nicht bemerkt. Nachdem er die Augen geöffnet hat, ist sie sich ganz sicher, wer dieser junge Mann ist, der ihrem Sohn so sehr ähnelt.

      „Gerhard Erdmann“, flüstert sie, „du bist Gerhard, Annelieses Sohn.“

      Ihre Gedanken überstürzen sich. Es kann nur einen Grund geben, weshalb Gerhard Erdmann in Dresden ist und aussieht, als hätte er ein Problem. Er will raus, so wie all die anderen, die jede Nacht durch die Stadt ziehen. Und es ist etwas passiert mit ihm, es geht ihm nicht gut.

      Er sieht nicht aus wie ein Tourist, der gemütlich durch die Stadt bummelt und den Zwinger besuchen will. ... Doch vielleicht irrt sie sich und es handelt sich um einen Fremden, der Herfried zufällig ähnlich sieht, so etwas gibt es ja. Aber wenn er es wirklich ist, was sagt sie zu ihm, wie soll sie ihn ansprechen nach all den Jahren? Er kennt sie ja gar nicht mehr, er war ein Kleinkind, als sie ihn das letzte Mal sah.

      Kurz entschlossen geht sie zu ihm, fragt hastig, ob sie auch nicht stören würde und setzt sich lächelnd. Dabei hofft sie, dass er nicht bemerkt, wie aufgeregt sie ist.

      Während sie ihren Blick über den Markt schweifen lässt und nach Worten sucht, mustert er sie verstohlen. Es scheint keine Gefahr von ihr auszugehen. Eine sympathische, gut gekleidete ältere Dame sitzt neben ihm und sicher wäre es absurd zu denken, man hätte sie geschickt, um ihn zu beobachten.

      Inzwischen ist es weit nach Mittag, die Händler bauen ihre Stände ab und die Käufer haben den Platz verlassen. Seine rechte Wange pocht schmerzvoll, erneut füllt sich sein Mund mit Blut. Hastig schluckt er es hinunter.

      „Geht es Ihnen nicht gut, haben Sie Schmerzen?“

      Sie beugt sich zu ihm und berührt flüchtig seinen Arm.

      „Ich glaube, ich habe gerade einen Backenzahn verloren“, nuschelt er verlegen.

      Er schaut auf das, was vor ihm im Schmutz liegt und offensichtlich sein Zahn ist.

      „Es sieht wohl so aus“, sagt sie hastig, nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und bückt sich. Geschickt klaubt sie mit Hilfe des Tuches den vermeintlichen Zahn auf und betrachtet ihn.

      „Mein Mann ist Zahnarzt, wissen Sie. Es macht mir nichts aus.“

      Beide schauen sie nun auf das blutverschmierte Bröckchen.

      „Die Wurzel muss noch drin sein. Sie haben sicher große Schmerzen, nicht wahr?“

      Er nickt stumm. Sicher will sie wissen, wie das passiert ist, denkt er. Ich hätte lieber gleich gehen sollen, als sie kam.

      „Ich bin nur auf der Durchreise“, sagt er hastig. Dabei legt er seine Hand auf die rechte Wange und fühlt eine deutliche Schwellung.

      „So können Sie nicht reisen, junger Mann, vorher müssen Sie sich behandeln lassen. Kommen Sie mit mir, mein Mann ist ein guter Zahnarzt.“

      Er schweigt und vermeidet es, sie anzuschauen.

      „Vertrauen Sie mir“, flüstert sie, „ich bin mir sicher, Sie wollen nicht lange in Dresden bleiben, aber erst muss Ihr Zahn behandelt werden. Kommen Sie, wir wohnen nicht weit von hier. Sie sind nicht der Erste, der unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Damit meine ich Hilfe in einer besonderen Situation. Verstehen Sie?“

      Auch er steht nun auf. „Ich weiß nicht, ob ich einfach so mitkommen kann. Heute ist doch Sonnabend, haben Sie da nicht geschlossen?“

      Er mustert sie verstohlen und bemerkt, dass sie ganz anders aussieht als die älteren Frauen in seiner Heimatstadt. Ihr weißes, korrekt geschnittenes Haar schmiegt sich wie ein Helm um ihr feines Gesicht, ihre Lippen sind dezent geschminkt. Sie trägt einen marineblauen Blazer, einen grauen Kostümrock und feine Wildlederpumps. Sehr elegant erscheint sie ihm.

      „Aber

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