Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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mir, vorläufig kein Wort zu Anneliese, ja? Weder telefonisch noch brieflich. Wir würden ihm nur schaden. Wenn er sich meldet, dann kannst du sie benachrichtigen. Oder besser erst, wenn wir wissen, dass er drüben gut angekommen ist.“

      „Wieso? Meinst du etwa, sie sind auch in der Botschaft?“

      „Was denkst du denn! Sie sind überall, das weißt du doch. Sie wissen genau, dass ihre Zeit bald zu Ende sein wird und das macht sie noch gefährlicher.“

      „Du hast recht, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

      „Außerdem hat er mir versprochen, dass er sich bei seinen Eltern meldet, wenn er drüben ist.“

      „Ach! Sag bloß, ihr habt über Schwedt geredet?“

      „Ja. Heute Nacht, nachdem du zu Bett gegangen warst. Nicht, dass du jetzt denkst, ich hätte ihn ausgefragt. Er erzählte von ganz allein. Er stand so unter Druck, er musste einfach reden. Sein Vater nannte ihn einen ehrlosen Vaterlandsverräter, als er erfuhr, dass er ausreisen will.“

      „Das sieht ihm ähnlich, etwas anderes hätte ich auch nicht von ihm erwartet. Aber sag mal, hast du dir denn nicht die Zunge abgebissen, als er von Schwedt sprach?“

      „Als er meinte, das wäre ja ein Zufall, seine Mutter sei eine geborene Seewaldt, da war ich nahe dran, es ihm zu sagen. Aber du kennst mich doch, ich spiele gern mit verdeckten Karten. Lass ihn erst einmal in Sicherheit sein, Eva. Dann werden wir ihm alles erzählen.“

      „Du bist gut! Höchstwahrscheinlich sehen wir ihn nie wieder.“

      „Glaubst du das wirklich Eva? Hör mir mal zu, bald ist der ganze Spuk vorbei und jeder kann reisen, wohin er will!“

      „Mal sehen, vielleicht. ... Ob wir das noch erleben? Ich würde gern mal nach Italien, Adrian. Guck mich nicht so an, man muss auch ein bisschen träumen dürfen! Was hat er denn von Anneliese erzählt, hat er gar nichts über seine Mutter gesagt?“

      „Nichts Persönliches. Sie lebt noch, Eva.“

      „Das weiß ich ja wohl selbst, schließlich bin ich es ja, die den Kontakt hält! Sei doch nicht so herzlos, sie ist deine Schwester.“

      „Er war mit sich selbst beschäftigt und mit dem, was er gerade erlebt hatte. Was hätte ich denn sagen sollen! Ich hielt es für klüger, vorerst zu schweigen.“

      „Erinnerst du dich, wie wir uns damals mit Anneliese in Berlin trafen? Karl-Heinz war zu einem Lehrgang, er durfte ja nichts davon wissen. Da hatte sie Gerhard dabei. Es war das einzige Mal, dass wir ihn gesehen haben. Wir trafen uns in Friedrichsfelde und gingen in den Tierpark. Er war ja noch ein Knirps, höchstens drei Jahre alt. Aber er sprach schon sehr gut und Anneliese hatte Angst, dass er seinem Vater was erzählt. Es ist so lange her, wo ist nur die Zeit geblieben, Adrian. ... Als ich ihn auf dem Markt sah, das war so unwirklich, fast wie ein Traum. Diese Ähnlichkeit. ... Es kann kein Zufall gewesen sein, dass ich ihn dort traf. Man könnte fast glauben, eine höhere Macht hatte ihre Hände im Spiel.“

      „Zufälle gibt es nicht, meine Liebe. Je älter ich werde und je öfter ich rückschauend auf mein Leben blicke, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, es gibt einen großen Plan. ... Hast du eigentlich Annelieses Briefe aufbewahrt?“

      „Ja, natürlich. Warte, sie sind hier im Sekretär.“

      Sie reicht ihm ein Bündel vergilbter Briefe und spürt in diesem Augenblick, wie schnell ihr Herz schlägt. Alles längst Vergangene ist wieder gegenwärtig, befindet sich jetzt hier im Raum.

      „Hier schrieb sie über ihn. ... Soll ich es dir vorlesen?“

      „Ja, bitte.“

      „Schwedt/Oder, den 12.12.1963. Meine Lieben, eure Post erhielt ich gestern auf dem üblichen Umweg. Ich habe mich sehr über die Fotos gefreut, aber schickt lieber keine mehr. Ihr wisst ja, wie er ist und wenn er sie sehen würde, dann ist hier die Hölle los. Euer Herfried ist ja tüchtig gewachsen und ich finde, dass Gerhard ihm nachkommt. Sie sehen sich ähnlich, als wären sie Brüder.“

      Er lässt den Brief sinken und sucht ihren Blick. Sie hört das trockene Rascheln des Papiers, riecht den faden Staubgeruch, der dem alten Brief anhaftet und denkt an jene Zeit, als sie noch nicht ahnte, wie bald sie Herfried verlieren würde.

      „Haben wir noch die alten Bilder, Eva?“

      „Ja, ich hebe doch alles auf. Aber ich finde, für heute ist es genug. Lass uns schlafen gehen.“

      In dieser Nacht steht sie wieder am Ufer der Moldau, der alte Traum sucht sie heim. Wenn sie ihn träumt, dann fühlt es sich an, als wäre sie selbst dabei gewesen. Doch was ihrem Sohn in Prag geschah, wurde ihr nur erzählt und sie weiß, es war heller Tag, als er tot am Ufer der Moldau lag. In ihrem Traum aber ist es Nacht und sie schaut hinüber zur Karlsbrücke.

      Im Licht der alten Laternen erscheinen ihr die vertrauten, imposanten Skulpturen kalt und fremd. Bedrohlich wie mahnende Zeigefinger ragen sie in den Nachthimmel.

      Ihr Blick tastet sich am Ufer entlang, sie sucht ihren Mann und erkennt ihn inmitten einer kleinen Gruppe Menschen. Auch sie schaut nun auf das, worauf alle schauen. Neben einer Trauerweide liegt ein Körper, liegt dort ganz still unter einer Wolldecke, auf deren Mitte ein rotes Kreuz leuchtet. Ja, es leuchtet in der Dunkelheit grell und schrill im Licht eines Scheinwerfers. Das laute Geheul einer Sirene fällt ein in die Stille. Sie schaut hinauf zum Himmel und dann dreht sich plötzlich die Erde unter ihr. Sie dreht sich schnell, immer schneller, bis eine mächtige Kraft sie zu Boden schleudert. ...

      Als sie erwacht, ist weit nach Mitternacht. Sie steht auf und geht ins Wohnzimmer. Lauschend steht sie am Fenster. Nein, denkt sie, sie sind nicht da, heute nicht. Aber wo sind sie? Sind sie wirklich alle am Bahnhof oder durchkämmen sie mit ihren Hunden den Wald. ... Herrgott im Himmel, bitte hilf, dass sie ihn nicht finden.

      Sie geht zum Sekretär. Mit fliegenden Fingern öffnet sie ihn hastig und findet das kleine Kästchen, in dem sie die Briefe aufbewahrt, deren Botschaft ihr bis zum heutigen Tag absurd erscheint. Obwohl sie weiß, dass Herfried tot ist, lässt sie es nur selten zu, dass die Wahrheit sich wie ein Dolch in ihr Herz bohrt.

      „Euer Schmerz ist auch unser Schmerz. Wir haben Herfried geliebt wie unseren eigenen Sohn. Seid stolz auf ihn, er war ein wunderbarer Mensch, ein Held des Prager Frühlings und alle, die ihn kannten, liebten ihn. Hans und Martha.“

      Sie lässt den Briefbogen sinken und schließt die Augen.

      „Keiner wird mehr sterben, weil er ein freier Mensch sein will“, sagt sie leise, „Adrian hat recht, ihre Zeit ist abgelaufen.“

      Er läuft über die Karlsbrücke und vergisst dabei den Grund seiner Reise nach Prag. Die Angst der letzten Nacht, die gefahrvolle Fahrt im überfülltem Zug, all das ist ausgelöscht in dieser Stunde, verdrängt vom staunenden Bewusstsein hier auf dieser Brücke zu sein. Er folgt dem Strom der Fußgänger, doch ab und an hält er inne, um den Straßenmalern über die Schulter zu schauen. Schnell skizzierte, elegante Porträts sieht er auf ihren Staffeleien, duftige Aquarelle und großformatige Acrylbilder, auf denen man die Prager Burg vielfarbig leuchten sieht.

      Verlockend der Gedanke, selbst hier zu sitzen und zu malen. Ihm scheint, als würde es am Ufer der Moldau ewig Sommer sein und jeder Tag ein Ferientag, wenn man sich hinsetzt, malt und alles andere vergisst. Und abends geht man angeln, weiter stromaufwärts ... Und dann ein Feuerchen machen,

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