Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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Seewaldt steht auf und tut es selbst. Frau Seewaldt setzt sich wieder und Gerhard sieht, dass ihre Hände zittern.

      „Sie kommen jede Nacht“, flüstert sie, „immer zur gleichen Zeit. Ich kann das nicht mehr ertragen.“

      „Vielleicht sollte ich doch besser gehen.“

      Auch er steht nun auf und lauscht. Man hört das Bellen einer Hundemeute, jemand brüllt etwas und das Gebell verstummt.

      „Wenn du ihnen direkt in die Arme laufen willst“, sagt Herr Seewaldt, „dann musst du jetzt gehen. Aber gleich, sonst sind sie weg! Sie fahren jede Nacht durch die Neustadt, sie machen Razzia. Hier wohnen viele junge Leute und sie haben oft Gäste, die auf der Durchreise sind. ... Bleib nur ruhig, Junge, und setz dich schön wieder hin. Wir sind alt, zu uns kommt keiner. Eva, du bringst uns jetzt eine schöne Flasche Wein, nicht wahr, meine Liebe?“

      Schweigend räumt Frau Seewaldt die Teetassen auf das Tablett. Gerhard steht auf, um ihr die Tür aufzuhalten und folgt ihr in die Küche.

      „Du hast etwas unterschrieben, nicht wahr“, flüstert sie. „Ich habe gehört, wie du im Traum geredet hast. Mach dir keine Gedanken, ihre Zeit ist vorbei. Du gehst in die Botschaft, wir kennen da jemand in Prag, der dir helfen wird. Du wirst sehen, es ist ganz einfach.“

      „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“

      „Aber dafür doch nicht, das ist selbstverständlich“, antwortet sie hastig, während er zuschaut, wie sie die hauchdünnen Porzellantassen behutsam auf den Küchentisch stellt.

      „Man muss sie wie rohe Eier behandeln, das Porzellan ist ganz fein und sie sind sehr alt. Sie stammen aus dem Haushalt meiner Schwiegermutter. ... Mein Mann sagt, sie sind kitschig. Aber das ist mir egal. Was zählt, ist einzig die Erinnerung.“

      „Ja“, sagt er leise, „Erinnerungen sind wichtig.“

      Früh erwacht er am nächsten Morgen und die Zeit zwischen Traum und Tag schenkt ihm eine Illusion. Er schlägt die Augen auf und schaut auf ein Regal. Mineralien sieht er, Steine verschiedener Art, Tannenzapfen und einen Strauß getrockneter Blumen, deren Namen er nicht kennt. Noch einmal schließt er seine Augen und sieht eine Gebirgslandschaft. Ein klarer Bach plätschert über Gestein, dunkle Tannen säumen einen Pfad. ...

      Er setzt sich auf die Bettkante und seufzt. Nein, das hier ist kein Urlaub und er wird nicht gemütlich wandern, auch wenn Herr Seewaldt meint, nur so würde er unauffällig bis Prag gelangen. Schnell steigt er in seine Hose, um ins Bad zu gehen. Die fürsorgliche Frau Seewaldt hat ihn mit allem versehen, was er braucht, sogar ein elektrischer Rasierapparat liegt auf der Kommode. Kein Wunder, dass man denkt, man erwacht in einer Ferienpension.

      Er kommt aus dem Bad, kämmt schnell sein Haar vor dem Schrankspiegel, doch dann hält er inne und dreht sich um. Über dem Bett hängt ein Bild. Es ist das Porträt eines jungen Mannes, eine Fotografie im Postkartenformat. Ein schwarzes Band, quer über die linke untere Ecke gespannt, gibt dem Betrachter darüber Auskunft, dass er einen Toten anschaut.

      Sein Blick wandert zurück zum Spiegel und er fühlt, wie sich die Härchen auf seinen Unterarmen aufrichten, etwas Kaltes scheint durch ihn hindurchzugehen. Noch einmal geht sein Blick vom Spiegel zum Bild, der tote junge Mann sieht ihm sehr ähnlich, er könnte sein Bruder sein.

      „Es wäre gut, wenn du dein Äußeres etwas verändern würdest, bevor du dich auf den Weg machst“, sagt Frau Seewaldt nach dem Frühstück zu ihm. „Deine Frisur ... Das lange Haar ist einfach zu auffällig, geradezu provozierend. Sicher verstehst du, was ich meine. Dein langes Haar reiht dich in die Kategorie derer ein, die ihnen verdächtig erscheinen und die sie argwöhnisch beobachten. Wenn du einverstanden bist, schneide ich es dir ab, meinem Mann schneide ich auch immer die Haare. Was meinst du?“

      „Ich weiß nicht so recht. Sicher ist es auffällig. Wissen Sie, das lange Haar ist für mich so etwas wie ein Markenzeichen. Na ja, das klingt vielleicht blöd, schließlich bin ich ja keine siebzehn mehr. ... Aber irgendwie ist es auch ein Protest. Ich glaube, Sie verstehen das.“

      „Natürlich. Du willst damit ausdrücken, dass du ein Individualist bist.“

      „Ja“, sagt er hastig, „das bin ich vielleicht. Aber ich bin kein Einzelgänger.“

      „Aber nein, so meine ich es nicht. Ich denke, du bist jemand, dem seine Freiheit viel wert ist und sicher hast du dich deshalb dafür entschieden, dieses Land zu verlassen.“

      „Sie haben Recht, da ist was dran.“

      Nein, denkt er, mehr werde ich ihr nicht sagen. Kein Wort von Susanne und dieser ganzen Geschichte mit dem Ausreiseantrag. Es ist besser, wenn sie es nicht wissen.

      „Und? Was ist nun mit den Haaren?“

      „Ehrlich gesagt, es fällt mir schwer. Aber Sie haben mich überzeugt, es muss wohl sein.“

      Er hört das Geklapper der Schere, spürt den leichten Druck des Kammes auf seiner Kopfhaut und sieht, wie die Strähnen zu Boden fallen. Ein eigentümliches Gefühl breitet sich in ihm aus. Ihm scheint, als würde sich mit den fallenden Haaren auch sein altes Leben von ihm verabschieden. Seltsam ist ihm zumute und schuld daran sind nicht die Haare, die vor ihm auf dem Boden liegen, sondern die Erinnerung an eine Zeit, als zwischen ihm und Susanne noch nicht die Rede davon war, dieses Land zu verlassen. Sein Leben war überschaubar und er hatte es sich ganz bequem darin eingerichtet. Doch jetzt ist alles anders und kein Weg führt mehr zurück. Ihm ist nun klar, dass er mehr verliert als nur ein paar Büschel Haare.

      Sein altes Leben existiert nicht mehr und ein Neues ist noch nicht in Sicht.

      Frau Seewaldt hält ihm einen Spiegel vor.

      „Fertig! Na, was sagst du nun? Ich finde, es steht dir gut.“

      Im ersten Moment glaubt er, das Gesicht eines Fremden zu sehen. Dieser Fremde sieht aus wie der junge Mann auf dem Foto.

      Älter erscheint ihm nun sein Gesicht. Ein Gesicht mit herben Konturen sieht er, ein Gesicht, in dem das Leben erste Spuren hinterlassen hat. Er nahm sie bisher nicht wahr, wenn er sich im Spiegel anschaute, sein langes Haar verlieh seinem Äußeren eine gewisse jugendliche Unbeschwertheit.

      „Du musst dich erst daran gewöhnen, nicht wahr? Aber nun siehst du ganz anders aus und darum geht es ja! Wenn du jetzt noch was Anderes anziehst. ... Ich habe da eine Wetterjacke von meinem Sohn, die müsste dir passen.“

      Er folgt ihr in das Zimmer, in dem er schlief und sie öffnet den Schrank. Eine kleine Weile steht sie still davor, dann nimmt sie eine Jacke heraus.

      „Das ist eine gute Jacke“, sagt sie leise. „Ein englisches Fabrikat, die hält was aus. Mein Sohn hat sie in Prag gekauft.“

      „Ist ihr Sohn tot?“

      „Ja“, antwortet sie hastig, „das ist lange her, mehr als zwanzig Jahre. ... Aber so etwas trägt man immer, diese Jacke ist zeitlos. Es ist eine Barbourjacke. Gewachst, da geht nichts durch. Kein Regen, kein Wind, nicht einmal Feuer, wenn man dem Hersteller glauben darf.“

      „Es tut mir leid, das mit ihrem Sohn“, sagt er leise. Er sieht die Trauer in ihren Augen und er denkt an seine Mutter, von der er sich nicht verabschieden konnte.

      „Zieh sie an, sie müsste dir passen.“

      Er

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