Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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steht er am Bahnsteig und schaut auf die Anzeigentafel. Eigentlich wollte er nur bis Berlin lösen, doch dann sagte er spontan: „Bitte einmal Dresden/Hauptbahnhof.“

      Die Frau am Schalter fragte ihn neugierig, ob er in den Urlaub fährt, worauf er hastig antwortete, dass er Verwandte besuchen will. Es kam ihm so ein und er wundert sich nun über die merkwürdige Antwort, die sie ihm daraufhin gab.

      „Wie schön“, meinte sie lächelnd, „das freut mich aber! Da habt ihr also wieder Kontakt nach all den Jahren. Das freut mich besonders für deine Mutter.“

      Sie wird mich verwechselt haben, denkt er, und das kann nur zu meinem Vorteil sein.

      Der ankommende Zug ist fast leer, schnell steigt er ein. Er fühlt sich nun sicherer als auf dem Bahnhof, die Abteile sind klein und überschaubar. Wo man von einer Wand zur anderen greifen kann, da hat man Rückendeckung und sie können unmöglich in jedes Abteil einen Stasi-Mitarbeiter setzen. In Berlin muss er aufpassen und schnell umsteigen, Augen zu und durch. Da wird es nur so wimmeln von Transportpolizei, die sind noch einen Zahn schärfer als die gewöhnlichen Bullen. Das Gute ist, sie sind uniformiert. Man sieht sie. Die Stasi sieht man nicht. ... Obwohl, wenn man genau hinschaut. ...

      Ihm gegenüber sitzt eine ältere Frau. Ihr geblümtes Kleid und ihre Art zu lächeln erinnern ihn an seine Mutter. Er meidet ihren Blick, schaut hinaus auf die vorbeiziehende Landschaft und denkt daran, dass er seine Mutter vielleicht nie wiedersehen wird. Auch wenn sie irgendwann reisen darf, sein Vater würde sie nicht fahren lassen.

      Mutter, denkt er, warum hast du ihm immer alles recht gemacht? Und warum standest du mir nie bei, wenn er mich niederbrüllte? Die Angst vor diesem Mann beherrscht dein Leben, beherrschte es immer, solange ich mich erinnern kann. Warum verhältst du dich ihm gegenüber so unterwürfig. ... Er verlässt das Abteil, niemand soll seine Tränen sehen. Wenn er drüben ist, wird er ihr schreiben. Alles wird er ihr schreiben, was ihm schon seit Jahren auf der Seele brennt.

      Während Gerhard Erdmann im Zug nach Dresden sitzt, findet im Polizeipräsidium Schwedt eine kleine Dienstbesprechung statt.

      Klaus Bäumert streicht verlegen seine Uniformjacke glatt. Er weiß nicht, wohin mit seinen schwitzenden Händen und ihm ist nicht wohl. Verstohlen beobachtet er den Mann in Zivil.

      Er sitzt ihm gegenüber und liest aufmerksam ein Protokoll. Nur mühsam gelingt es Klaus Bäumert, seine Angst zu verbergen.

      „Ich wusste nicht, dass er der Sohn vom alten Erdmann ist“, sagt er und seine Stimme klingt seltsam belegt.

      „Das spielt auch keine Rolle, wo kämen wir denn dahin. ... Darum geht es hier nicht. Verdammt, Klaus, wie konntet ihr ihn laufen lassen. Das hier reicht, um ihn einzulochen! Aber sicher ist er schon über alle Berge, so wie all die anderen, jeden Tag werden es mehr. Was soll man dazu sagen, da fehlen mir die Worte! Das hat Konsequenzen, Genosse, das ist dir doch klar.“

      Klaus Bäumert schluckt und nickt stumm, er meidet den Blick des Mannes.

      „Aber wir ... Wir hatten doch keinen Haftbefehl“, stammelt er.

      „Der ist gut! Der beste Witz, den ich seit Langem gehört habe! Ich kann dich beruhigen, seit einer Stunde läuft die Fahndung. Den kriegen wir, soweit kann er noch nicht sein. Ich schätze mal, er hat den Zug nach Dresden genommen.“

      Laut seufzend lehnt sich der Mann in Zivil zurück.

      „Und wenn wir ihn nicht kriegen, mal ganz unter uns, spielt das noch eine Rolle? Einer mehr oder weniger von diesem asozialen Pack. Sollen sie doch gehen, alle! Ich bin es leid, verstehst du, mir steht es bis zum Hals! Hast du was zu trinken da?“

      Klaus greift in das Schreibtischfach und stellt eine Flasche Weinbrand auf den Tisch. Erleichtert atmet er auf, kramt ein Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

      „Ich habe alles aufgenommen. Das ganze Gespräch ist im Kasten. Beweismaterial gibt es genug.“

      „Dein Eifer in Ehren, Klaus, aber was soll das, seit wann brauchen wir Beweise? Hör es dir selbst an, wenn du mal Langeweile hast. Prost!“

      Klaus nimmt einen Schluck aus seinem Glas. Angenehm wärmend rinnt der Weinbrand durch seine Kehle und ein wohliges Gefühl der Ruhe breitet sich in ihm aus.

      „Wir sehen uns.“

      Der Mann in Zivil steht auf und verlässt den Raum.

      Auch Klaus Bäumert steht auf und schließt die Tür, dann geht er zum Waschbecken und dreht den Hahn auf. Während das Wasser über seine Hände läuft, schaut er in den Spiegel.

      Ich kann nicht mehr... Ich bin so blöd, warum habe ich ihn nicht gleich kassiert, dann wäre die Sache für mich vom Tisch. Dieser freche kleine Gammler. Sein Alter bläst ihm doch sicher Zucker in den Arsch, der hat doch alles, was will der denn drüben. ... Ich muss mir das noch mal anhören, die ganze Aufnahme. Gut, dass es eine gibt, da kann ich beweisen, dass ich mich korrekt verhalten habe. Wer weiß, was da noch hinterherkommt. ...

      Er legt die Kassette ein. Ein Rauschen tönt aus dem Aufnahmegerät, schließlich hört er seine Stimme: „Warum wollen Sie in die BRD ausreisen, gibt es dafür einen konkreten Anlass? Zum Beispiel einen Verwandtenbesuch, da haben wir hier ein Formular, das füllen Sie aus und dann kommen Sie wieder.“

      „Ich will nicht zu Besuch, ich will für immer raus.“

      „Für immer. Das geht aber nicht mit diesem Antrag.“

      „Womit dann? Mit meinem Personalausweis komme ich ja wohl nicht raus!“

      „Werden Sie nicht frech. In diesem Fall gibt es ein anderes Formular. Wir hindern keinen daran, auszureisen. Die DDR ist ein Rechtsstaat, junger Mann.“

      „Ein Rechtsstaat. Soll das ein Witz sein? Ein Rechtsstaat lässt seine Bürger reisen, wohin sie wollen. Na klar, ein Rechtsstaat, deshalb wird an der Grenze geschossen.“

      „Woher haben Sie diese Information, das ist ja ungeheuerlich! Ich warne Sie.“

      „Entschuldigen Sie bitte. Ich möchte einen Antrag stellen, einen Antrag zur ständigen Ausreise. Ich denke, nun habe ich mich korrekt genug ausgedrückt.“

      „Was korrekt ist, das überlassen Sie gefälligst mir. Name, Geburtsdatum?“

      „Erdmann, Gerhard Erdmann, geboren am 10.04.1959.“

      „Erdmann. Ach, jetzt verstehe ich. ... Susanne Riedel, so heißt doch ihre Verlobte, nicht wahr? Dann war das wohl ein abgekartetes Spiel und Sie wollen ihr folgen. Eine sogenannte Familienzusammenführung also. Das haben Sie sich ja fein ausgedacht.“

      „Ich möchte ausreisen, das ist mein gutes Recht.“

      „Da könnte ja jeder kommen, junger Mann.“

      „Ich bin nicht Ihr junger Mann. Haben Sie schon mal was von der KSZE-Schlussakte gehört? Jeder hat das Recht, dieses Land zu verlassen!“

      „Kommen Sie mir nicht so und nicht in diesem Ton! Bis jetzt bestimmen immer noch wir, wer ausreisen darf und wer nicht.“

      „Ich denke, Sie bestimmen gar nichts, Sie sind doch nur ein mieser kleiner Handlanger.“

      Klaus schaltet das Tonband

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