Namenlose Jahre. Marina Scheske

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Namenlose Jahre - Marina Scheske

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mit dem Parka ist es so wie mit den langen Haaren.“

      „Ich weiß. ... Und Sie haben ja recht. Aber werden Sie die Jacke nicht vermissen? Ich meine, weil es doch die Jacke Ihres Sohnes war.“

      „Ach ... Eine Jacke ist nur eine Jacke! Ich glaube, Herfried würde sich sehr darüber freuen, dass diese Jacke noch eine Verwendung findet.“

      „Wenn Sie es so sehen, dann nehme ich sie gern. Sie haben recht, ich sehe mit den kurzen Haaren und dieser Jacke ganz anders aus. Ich möchte mich noch einmal für alles ganz herzlich bedanken.“

      Ihre Blicke treffen sich im Spiegel. Herr Seewaldt kommt herein und bringt einen Schuhkarton mit.

      „Na? Wird das hier eine Modenschau? Die Jacke sitzt ja wie angegossen. Aber mit deinen Turnschuhen wirst du nicht weit kommen! Hier, zieh die mal an, das sind Wanderschuhe und sie sind so gut wie neu. Ich denke, sie werden dir passen.“

      „Ja, das ist genau meine Größe.“

      „Na dann, worauf wartest du noch!“

      Er schlüpft in die robusten Schuhe und schnürt die Senkel. Dann richtet er sich auf und setzt vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

      „In neuen Schuhen in ein neues Leben“, sagt Herr Seewaldt und es klingt seltsam feierlich.

      „Unser Sohn würde sich freuen, wenn er wüsste, dass du in seinen Schuhen in eine bessere Zukunft gehst. Und nun setz dich und hör gut zu.“

      Herr Seewaldt reicht ihm einen Zettel.

      „Wo du über die Grenze gehst, haben wir ja besprochen. Du meldest dich bei dieser Adresse und fragst nach Hans Rosenbaum. Sag ihm, dass dich Eva schickt und du möchtest einen Fiaker mieten. Der Fiaker ist das Kennwort. Natürlich könntest du auch auf eigene Faust über den Zaun der Botschaft steigen. Aber wieso solltest du dich unnötig in Gefahr begeben, das ganze Viertel wimmelt nur so von Stasi-Leuten. Hans Rosenbaum kennt sich gut aus. Du bist nicht der Erste, dem er hilft. Er wird dich unbemerkt in die Botschaft bringen. Hier hast du unsere Adresse und die Telefonnummer. Melde dich, wenn du drüben bist, wir würden uns freuen!“

      Herr Seewaldt kramt eine Klarsichthülle aus seiner Westentasche und schiebt einen kleinen Zettel hinein. „Unsere Telefonnummer. Die legst du in den Schuh, unter die Einlegesohle. Man weiß ja nie ...“

      Gerhard steht am Torweg und schaut unschlüssig die Straße hinauf.

      Frau Seewaldt drückt seine Hand. „Und grüß mir das goldene Prag“, flüstert sie. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.

      An der Ecke wechselt er die Straßenseite und weicht den Menschen aus, die vor einem kleinen Geschäft in langer Schlange anstehen. Schnell hat er die kopfsteingepflasterte Straße hinter sich gelassen, passiert eine Elbbrücke und läuft den Weg hinauf in die Berge. Noch einmal schaut er hinab ins Tal, dort liegt die Stadt im warmen Licht des Spätsommertages.

      „Du hast mir Glück gebracht, Elbflorenz“, flüstert er. „Es ist nur schade, dass ich keine Zeit habe, um dich richtig kennenzulernen.“

      Am anderen Ufer sieht man all das, was er schon immer mal sehen wollte, den Zwinger, das Grüne Gewölbe, die Trümmer der Frauenkirche, die Semperoper. Nun war er in Dresden und hat nichts von all dem gesehen.

      Während sein Blick über die Elbe schweift, denkt er daran, welche Konsequenzen diese Flucht für ihn hat. Wenn sich das Tor der Botschaft hinter ihm schließt, dann wird die Welt hinter diesem Tor für ihn in Zukunft unerreichbar sein. Für immer? Das kann nicht sein, denkt er. Es kann doch nicht sein, dass ich nie wieder zurückkommen kann. Er denkt an seine Heimatstadt, an all die Plätze, die er liebt. Hilflosigkeit paart sich mit Wut, er schließt die Augen und spürt wieder den pochenden Schmerz in der rechten Schläfe. Herrn Seewaldts Worte fallen ihm ein.

      „Die Dinge sind in Fluss“, sagte er in der Nacht zu ihm. „Glaube mir, dieser Fluss wird zum reißenden Strom. Nichts kann ihn mehr aufhalten.“

      Was meinte er mit seinen dunklen Andeutungen? Vom Strandgut sprach er, das der Fluss an die Ufer spülen wird und von einer neuen Zeit ohne Mauern und Stacheldraht. ...

      Schnell wendet er sich ab und läuft hinauf in den Wald. Eintauchend ins dunkle Tannengrün läuft er höher und höher, bis hinauf zur Kuppe des Berges. Er orientiert sich am Stand der Sonne und sein Blick gleitet über das weite Tal. Dort drüben liegt der Berg, über dem er nach Einbruch der Dunkelheit gehen wird. Bis dahin wird er durch den Wald hinab ins Tal laufen.

      „Ich habe keine Wahl“, flüstert er, „ich muss jetzt da rüber.“

      Zur gleichen Zeit steht Frau Seewaldt am Fenster und lauscht. An diesem Abend ist es still in der Dresdener Neustadt. Herr Seewaldt steht auf und geht zu ihr.

      „Nun komm und setz dich endlich hin, Eva. Heute passiert hier nichts mehr.“

      Sie wendet sich zu ihm und er sieht die Angst in ihren Augen.

      „Wenn sie nicht hier sind, dann sind sie oben im Wald. Sie werden ihn dort finden!“

      „Aber nein! Setz dich hin, du machst mich ganz nervös. Sie sind heute alle am Bahnhof.“

      „Woher willst du denn das wissen?“

      „Ich habe meine Quellen, Liebste. Möchtest du ein Glas Wein?“

      „Ja gern, es wird mich beruhigen. Dann kann ich schlafen.“

      „Mach dir keine Sorgen, er schafft es. Ich weiß, das hat dich alles sehr mitgenommen. Ich bekam ja auch einen tüchtigen Schreck, als ich ihn sah. Sie sind sich ähnlich wie Brüder. Na ja, schließlich sind sie Cousins, da hat man den gleichen Stammbaum.“

      „Aber warum dieses ganze Versteckspiel, Adrian? Ich finde das irgendwie unwürdig, wir haben doch nichts vor ihm zu verbergen! Warum hast du darauf bestanden? Ich habe es akzeptiert, aber ich muss schon sagen, es verwirrt mich und ich verstehe dich absolut nicht.“

      „Eva, er befindet sich in einer akuten Stresssituation. Was er mir erzählt hat, das will ich dir ersparen. ... Ich denke, du hast Fantasie genug, um dir vorstellen zu können, wie sie mit ihm umgegangen sind. Es ist ein Wunder, dass sie ihn gehen ließen, aber sicher stehen sie spätestens Montag früh mit einem Haftbefehl vor seiner Tür. Beten wir zu Gott oder zu wem auch immer, dass er dann schon einen Fiaker gemietet hat. ... Einen Fiaker. ... Originell, nicht wahr? Typisch Hans. Nun schau doch nicht so ängstlich, Eva, entspann dich mal. Ich konnte ihn doch in seiner Situation nicht mit unseren familiären Problemen belasten!“

      „Ich habe keine Ruhe. Sollten wir nicht wenigstens seine Mutter benachrichtigen? Wenn ich mir vorstelle, was sie sich für Sorgen macht! Und sein Vater. ... Ach, jetzt muss ich lachen, der wird sich vor Scham winden! Sein Sohn, ein Republikflüchtling! Da bin ich richtig schadenfroh. Ist das schlimm? Es gehört sich jedenfalls nicht.“

      „Sei nur ruhig schadenfroh, Eva, das erleichtert. Und was sich gehört oder nicht gehört, das lassen wir mal hübsch beiseite. Dieses Land befindet sich zurzeit im Ausnahmezustand und wenn die Obrigkeit Jagd auf das Volk macht, dann müssen wir uns auch nicht mehr an Anstandsregeln halten!“

      „Du machst mir Angst, wovon sprichst du eigentlich? Meinst du, es gibt einen Bürgerkrieg?“

      „Das wollen wir doch nicht hoffen.“

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