Namenlose Jahre. Marina Scheske
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„Ich heiße Gerhard Erdmann.“
Sie versucht, ihre Erregung zu verbergen und beugt sich über den Apfelkorb, als würde sie die Qualität der Äpfel prüfen. Dann schaut sie ihn an, ein strahlendes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht. Es geht ihm ins Herz und er fühlt sich wunderbar geborgen.
Er nimmt ihr den Korb ab und folgt ihr. Sie überqueren den Markt und biegen in eine schmale Seitenstraße ein. Vor einem Torweg hält sie inne. Er öffnet ihr die schwere Tür und sie gehen hinein. Eine weitere Tür führt zum Hof. Sie steht offen und lässt die Sonne in den düsteren Hausflur scheinen. Zwei kleine Jungen jagen einem Ball hinterher. Er hört das scheppernde Geräusch einer Mülltonne und schreckt nervös zusammen.
„Es ist alles in Ordnung.“ Frau Seewaldt legt ihre Hand sacht auf seinen Arm. „Das sind nur die Kinder.“
Eine steile Treppe führt hinauf in den zweiten Stock und endet vor einer weiß lackierten Wohnungstür. Sein Blick gleitet über ein kleines Bogenfenster im oberen Teil. Es zeigt ein elegantes Buntglasmotiv. Auf blauem Grund sieht man die schlanke Silhouette einer Frau. Ihr blondes, gewelltes Haar fällt herab bis zur Taille. Sie spielt auf einer Harfe und eine winzige Elfe schaut ihr dabei zu.
„Gefällt es Ihnen? Es ist original Jugendstil, mein Mann hat es aus einem Abbruchhaus gerettet.“
Er nickt wortlos, während er auf das Namensschild schaut.
So ein Zufall, sie heißen Seewaldt, denkt er. Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Sicher ist das ein gutes Omen, ich kann jetzt jede Menge Glück gebrauchen.
Frau Seewaldt führt ihn ins Wartezimmer.
„Machen Sie es sich bequem, setzen Sie sich! Ich sage nur schnell meinem Mann Bescheid.“
Er ist allein und schaut sich um. Auf einmal ist ihm zumute, als hätte er alle Angst und Hast draußen vor der Tür gelassen. Die dunkle Holzvertäfelung, das alte Parkett und die gemütlichen Korbsessel, all das hat einen liebenswert altmodischen Charme und gibt ihm das Gefühl einer Auszeit. Nun spürt er auch keinen Schmerz mehr, entspannt schließt er seine Augen und öffnet sie erst wieder, als er Schritte nahen hört. Ein älterer Herr im weißen Kittel steht vor ihm und reicht ihm die Hand.
„Sie sind also Herr Erdmann. ... Herzlich Willkommen, junger Mann. Meine Frau sagte mir, Sie hätten da ein kleines Zahnproblem. Eigentlich ist die Praxis am Sonnabend um diese Zeit schon geschlossen, aber für Sie machen wir mal eine Ausnahme. Kommen Sie gleich hier entlang, bitte sehr.“
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen Umstände mache, aber da ich auf der Durchreise bin, wäre es besser, wenn Sie mal nachschauen. Es blutet andauernd.“
„Entspannen Sie sich erst einmal. Lehnen Sie sich einfach zurück und machen Sie den Mund auf. ... In der Tat, da haben wir noch Arbeit. Ich werde Ihnen eine Spritze geben und dann entferne ich die Wurzel. Jetzt können Sie den Mund wieder schließen, ich muss Ihnen noch einige Fragen stellen.“
Der große alte Mann im weißen Kittel setzt sich auf einen Schemel und seufzt. Ihre Blicke treffen sich. Du tust mir nichts, denkt Gerhard, nein, du nicht. Ich weiß nicht warum, aber ich vertraue dir, so wie ich auch deiner Frau vertraue.
„Haben Sie eine Allergie, ein Anfallsleiden oder sind Sie vielleicht Bluter?“
Gerhard schüttelt den Kopf. „Nein. Soviel ich weiß, ist mit mir alles in Ordnung!“
„Wirklich alles? Was haben Sie da für ein Hämatom an der rechten Schläfe, junger Mann? Das sieht aber nicht gut aus.“
Herr Seewaldt reicht ihm einen Spiegel und er sieht, dass sich die kleine rote Stelle, die er heute Morgen im Spiegel der Bahnhofstoilette sah, um das Dreifache vergrößert hat.
Im Schein der hellen Lampe leuchtet sie purpurrot.
„Ach das! Das ist nichts. Ich habe mich gestoßen, wissen Sie. ... Gestern, in der Werkstatt. Ich bin Schlosser in einem Landmaschinenbetrieb.“
Herr Seewaldt schmunzelt. „Ich weiß.“
Gerhard schickt sich an, den Stuhl zu verlassen. Schon setzt er seine Beine auf den Boden, doch Herr Seewaldt greift nach seiner Hand.
„Ich sehe es an deinen Händen, du bist Handwerker. Hände können viel. Sie reparieren Traktoren oder auch Zähne. Sie bauen Mauern, dem Menschen zum Wohl und manchmal auch zum Übel. Und sie können zuschlagen, um Menschen daran zu hindern, Mauern einzureißen. ... Du bekommst jetzt eine kleine Betäubung, dann ziehe ich den Zahn. Die Schläfe behandeln wir mit einer Heparin-Salbe. Danach musst du dich allerdings eine Weile ausruhen, bevor du weiterkannst. Nebenan steht eine Liege, Decken sind auch da. Schlaf ruhig, bei uns bist du sicher wie in Abrahams Schoß.“
„In Ordnung“, murmelt Gerhard verlegen und lehnt sich zurück. Er duzt mich, denkt er, er kennt mich doch gar nicht. Aber es stört mich nicht, es ist in Ordnung. Obwohl er ein Fremder ist, vertraue ich ihm. …
Noch betäubt von der Spritze macht er es sich nach der Behandlung auf der Liege bequem und schläft sogleich ein.
Als er erwacht, ist es bereits dunkel. Tastend bewegt er sich im Raum, findet endlich den Lichtschalter und schaut auf seine Armbanduhr. Noch in dieser Nacht will er über die Grenze. Leise öffnet er die Tür zum Flur. Er wird einfach gehen, ohne sich zu verabschieden. Eigentlich ist das nicht richtig, man stiehlt sich nicht einfach so davon. Aber länger kann er nicht warten, er muss die Dunkelheit nutzen, um unauffällig aus der Stadt zu kommen. Sie sind bestimmt noch wach, ältere Leute schlafen nicht mehr viel. Wenn sie hören, dass er aufgestanden ist, werden sie ihn sicher bitten, bis zum Morgen zu bleiben. Aber das ist zu gefährlich.
Er bückt sich, um seine Schnürsenkel zu binden. Als er sich wieder aufrichtet, stößt er gegen einen kupfernen Schirmständer. Gegenüber öffnet sich eine Tür, Frau Seewaldt steht vor ihm.
„Es tut mir leid“, stammelt er, „ich wollte Sie nicht aufwecken. Aber jetzt muss ich endlich los. Vielen Dank für alles und grüßen Sie ihren Mann.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir lassen Sie doch nicht mitten in der Nacht gehen. Außerdem müssen Sie etwas essen. Kommen Sie, sie sind unser Gast. Mein Mann wartet schon auf Sie.“
Gern nimmt er die Einladung an. Er hat Hunger, seit der Bratwurst am Mittag hat er nichts mehr gegessen.
„Na endlich, junger Mann“, begrüßt ihn Herr Seewaldt. „Ich dachte schon, Sie schlafen gleich durch bis Morgen. Haben Sie noch Schmerzen?“
„Nur noch ein bisschen, es geht.“
Frau Seewaldt kommt mit einem Tablett herein, stellt ihm einen Teller mit Schnitten hin und gießt Tee ein. Er bedankt sich verlegen.
Das glaubt mir keiner, denkt er. Wenn ich das jemandem erzähle. Fremde Menschen helfen mir. Einfach so, ganz uneigennützig.
Er schaut in das prasselnde Feuer des antiken Kamins und eine wohlige Wärme breitet sich in ihm aus. Es riecht würzig nach Holz. Auch das Ehepaar Seewaldt schaut still dem Spiel der Flammen zu, doch hin und wieder richten sie ihre Blicke zum Fenster und es sieht aus, als würden sie lauschend auf etwas warten. Helles Scheinwerferlicht fällt plötzlich in den Raum. Frau Seewaldt steht auf, schiebt den Vorhang beiseite und schaut hinaus. Man hört Motorengeräusch. Laute, brüllende Männerstimmen gellen durch die Nacht.