Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Schamanismus bei den Germanen - Thomas Höffgen страница 4
Einen ersten Hinweis darauf, was Schamanismus ist, gibt die Etymologie des Wortes: „Schamane“ leitet sich vom sibirisch-tungusischen Wort šaman ab und heißt „der, der weiß“ bzw. „der erregt ist“ oder auch „weiser Mann“. Der Schamane ist also ein Mensch, der im Zustand der Erregung (Raserei, Ekstase) eine Art von Wissen oder Erkenntnis erfährt. Der Ursprung des Wortes šaman wiederum wird im Hunnisch-Ungarischen kám, „Wahrsager, Seher“, vermutet. Demnach ist der Schamane dazu in der Lage, das in der Erregung geschaute wahre Wissen mythisch mitzuteilen. Vielleicht hängt šaman auch mit dem Sanskrit-Wort cramana „Bettelmönch, Asket“ zusammen, was auf die Funktion des Schamanen als Mystiker und Magier sowie als praktischer Philosoph hindeutet.
Jedoch gilt es zu beachten, dass der Begriff „Schamane“ nicht zwingend eine Selbstbezeichnung derjenigen ist, die „schamanisch“ tätig sind, sondern nur bei ganz bestimmten Völkern Nord- und Mittelasiens verwendet wird. Vielmehr hat jede Kultur und Tradition – sogar unter verwandten Völkerschaften – ihren eigenen Begriff: Noch „im 19.-20. Jahrhundert gab es bei den Völkern Mittelasiens und Kasachstans keine einheitliche Bezeichnung für Schamanen“.2 Nicht der Begriff also, sondern das Phänomen „Schamanismus“ ist weltweit verbreitet – und zeitlos.
Steinzeit-Schamanismus
Der Schamanismus führt in die Ur-Geschichte der Menschheit, die Zeit der Jäger und Sammler, die Altsteinzeit. Das Jungpaläolithikum (40.000-10.000 v. u. Z.) gilt nicht nur als die Geburtsstunde des modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) und als Blütezeit der bildenden Kunst, sondern auch als Hochphase des Schamanismus. Aus Mammut-Elfenbein gefertigte Figuren gelten als die ältesten Kunst- und Kulturwerke der Menschheit; ihr Bezug zum Schamanismus wird nicht bestritten. Hervorzuheben ist eine knapp 30 Zentimeter große Figur aus Mammut-Elfenbein, die bei archäologischen Ausgrabungen in einer Höhle der Schwäbischen Alb (Deutschland) gefunden wurde. Sie ist rund 35.000 Jahre alt und stellt einen menschlichen Körper mit dem Kopf und den Extremitäten eines Höhlenlöwen dar. Offensichtlich handelt es sich um einen in ein Tier verwandelten Schamanen. In die Geschichte eingegangen ist die Skulptur als der „Löwenmensch vom Hohlenstein“.3
Weltberühmt sind außerdem die Höhlenmalereien in Frankreich, die zoomorphe Mischgestalten abbilden, man denke an den Mann mit Hirschgeweih und Mann mit Stierhörnern und Mundbogen in der Grotte des Trois-Frères in Montesquie-Avantès:
Im Magdalénien von Mas d‘Azil aber tritt uns ein Mann mit Bärenkopf, in der Grotte von Espélugues bei Lourdes, ebenfalls in Südfrankreich, ein solcher mit Pferdekopf entgegen. Dies waren sicher Maskentänzer, die sich mit einem entsprechenden Fell und Kopf als Bär oder Pferd verkleidet vor einem geplanten Jagdzug auf diese Tiere Zauberkraft zu deren Erbeutung zu verschaffen versuchten.4
Tierverwandelte Ekstatiker begingen hier, im Bauch der Mutter Erde, schamanische Kulte: In der Brillenhöhle bei Blaubeuren (Schwäbische Alb) fand man bei Ausgrabungen einen fast 20.000 Jahre alten Trommelschlägel aus Rengeweih, der stark an diejenigen erinnert, die von den Samí-Schamanen verwendet werden.
Der vielleicht beeindruckendste Beleg für den mitteleuropäischen Schamanismus im Mesolithikum (ca. 10.000-5.000 v. u. Z.) ist die sogenannte „Bestattung von Bad Dürrenberg“, die älteste Bestattung in Sachsen-Anhalt (Deutschland). In dem rund 8.000 Jahre alten Grab fand man das Skelett einer (aufrecht sitzenden) Frau, die zwischen ihren Schenkeln einen Säugling hielt. Das Grab war rund 30 Zentimeter (!) hoch mit rotem Ocker befüllt. Roter Ocker oder „Rötel“ ist ein Zaubermittel, das weltweit in schamanischen Kulturen verwendet wurde und wird. Außerdem fand man über 100 Skelettreste von verschiedenen Säugetieren, über 120 Muschelstücke, unzählige Feuersteinfragmente und die Panzer von mindestens drei Sumpfschildkröten, ein Beil aus Hornblendschiefer mitsamt Fassung aus Hirschgeweih sowie rund 100 Schmuckstücke aus Tierzähnen und -hauern. Kurz, das Grab war voll mit schamanischen Ritualobjekten. Man fand auch die Fragmente einer kultischen Kopfbedeckung aus Schädelknochen mit dem Geweih von Rehen, welche überdeutlich an die Tracht sibirischer Schamanen erinnern. Gewiss waren dies die heiligen Requisiten, die der Schamanin von Bad Dürrenberg dabei halfen, sich in Trance zu versetzen und in ein Tier zu verwandeln.
Den Funden von der Schwäbischen Alb und aus Sachsen-Anhalt nach zu urteilen, mussten vielleicht gar nicht erst die Samí den Germanen den Schamanismus bringen. Warum sollte sich der Steinzeit-Schamanismus nicht bis in die Germanenzeit erhalten haben? Bekanntermaßen gab es auch bei den Germanen Menschen, die zu gewissen Zeiten Fell anlegten, Tiermasken trugen und sich mit Leder, Federn und Gehörn verkleideten – und rituell zum Tier wurden. Handelt es sich bei den germanischen Berserkern, Werwölfen und Geißmännlein nicht um die Urenkel dieser steinzeitlichen Tiermenschen?
Heilige Ekstase
Als Begründer der modernen Schamanismus-Forschung gilt der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade. Er betrachtete den Schamanismus als eine rituelle Praxis, mittels derer der Schamane bewusst (nämlich durch bestimmte Techniken, die tranceartige Zustände hervorrufen) außerkörperliche Erfahrungen induziert. Ziel der Praxis sei es, den gewöhnlichen Bewusstseinszustand zu verändern und die subjektive Wirklichkeit zu transzendieren, um mit den Göttern oder Geistern – das heißt: gewöhnlich unsichtbaren Entitäten – in Kontakt zu treten. „Eine allererste Definition dieses komplexen Phänomens“, schreibt Eliade, „wäre: Schamanismus = Technik der Ekstase“.5
Von der jüngeren Forschung wurde diese Definition übernommen:
Die wichtigste, schlechthin unabdingliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Séance aber war, daß der Schamane in Trance fiel, genauer: in Ekstase geriet, das heißt ganz Seele wurde und sich so vom Leib befreien und ins Jenseits begeben konnte. Dazu hatten Schamanen in aller Welt eine Fülle von ‚Techniken‘ entwickelt.6
Das altgriechische Wort ἔκστασις (ekstasis: „Ekstase“) bezeichnet das „Aus-sich-Heraustreten“, die „Begeisterung, Verzückung“. „Als Ekstase wird das in höchster Form von Erregung stattfindende ‚Heraustreten der Seele‘ aus den Körpergrenzen bezeichnet“.7
Ekstase ist ein Bewusstseinsphänomen, bei dem die Grenzen zwischen Ich und Nicht-Ich durchlässig sind und das mitunter als Verzückung, Rausch, Trance, Besessenheit, Enthusiasmus oder Begeisterung beschrieben wird. Psychische Zustände des Außersichseins können durch halluzinogene Stoffe, durch Drogen und Alkohol, aber auch durch asketische Übungen oder rituellen Tanz hervorgerufen werden. […] Berichte über ekstatische Erlebnisse handeln von Reisen in die Ferne, zu Göttern, Geistern und in den Himmel. Schamanen beziehen ihre Kraft und Erkenntnisse über medizinische Mittel häufig aus ekstatischen Reisen zu den Geistern, die für die Heilung der Menschen zuständig sind.8
Der Begriff „Ekstase“ ist insbesondere im Kontext der vorchristlichen Mysterien im antiken Griechenland gebräuchlich (Eleusis, Delphi, Dodona etc.). Ein bestes Beispiel für diese heidnischen Ekstasekulte der Hellenen sind die Dionysien, rituelle Festspiele und Verkleidungskulte zu Ehren des Rauschgottes Dionysos, die fest in der griechischen Kultur verwurzelt