Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen
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Kultbäume der Germanen
Über eine Rolle Yggdrasils im Kult sei nichts bekannt, heißt es in der einschlägigen Forschungsliteratur. Dies gilt es anzuzweifeln. Zwar fällt im Kontext eines Kultes nirgendwo der Name „Yggdrasil“, aber warum auch, wenn der Baum woanders in Germanien ganz anders heißt? Tatsächlich scheinen die mittelalterlichen Nordgermanen aber ihre Heiligtümer und Naturdenkmäler explizit mit Yggdrasil assoziiert zu haben. So berichtet der Theologe Adam von Bremen im 11. Jahrhundert in seiner Hamburgischen Kirchengeschichte, dass die Heiden unweit ihres Tempels in Uppsala (Schweden) einen „sehr großen Baum“ verehren, „der seine Zweige weithin ausbreitet und im Winter, wie im Sommer immer grün ist. Welcher Art derselbe ist, weiß niemand“. Am Fuße dieses Baumes, an einer „Quelle“, kamen die heidnischen Germanen zum Kult zusammen und brachten „Opfer“ dar. Wer denkt bei der Beschreibung nicht an die immergrüne Esche Yggdrasil mit ihrer Schicksalsquelle?
Sicher belegt ist, dass die Germanen gewisse Bäume ihren Göttern weihten. Dies waren meist besonders alte Bäume, die an exponierter Stelle in den Hainen standen und in deren Schatten der jeweilige Stamm über hunderte von Jahren sich zum Thing versammelte. Die südgermanischen Chatten beispielsweise, die alten Hessen, huldigten dem Gewittergott Donar unter einer mächtigen Eiche unweit des heutigen Dörfchens Geismar – der „Donareiche“. Ein jähes Ende fand dieser Kult jedoch, als Bonifatius, der sogenannte „Apostel der Deutschen“, die heidnischen Hessen zwangschristianisierte und im Jahre 723 die Donareiche niederhauen ließ.
Die alten Sachsen verehrten einen Weltenbaum in stilisierter Form als kunstvoll gefertigte Ikone unter dem Namen „Irminsûl“ im Sauerland. Traurige Berühmtheit erlangte die Irminsûl im Jahre 772, als der Christenkönig Karl der Große in das Sachsenland einfiel und das Heiligtum zerstörte. Die einzige nähere Beschreibung dieses Weltenbaumes stammt aus dem Jahre 863 vom Mönch und Missionar Rudolf von Fulda:
Sie verehrten auch unter freiem Himmel einen senkrecht aufgerichteten Baumstamm von nicht geringer Größe, den sie in ihrer Muttersprache ,Irminsul‘ nannten, was auf lateinisch columna universalis bedeutet, welche gewissermaßen das All trägt.13
Wie die Irminsûl tatsächlich aussah, ist unbekannt. Ein ernstzunehmender Hinweis findet sich indessen an den Externsteinen im Teutoburger Wald. Die Externsteine sind eine markante Sandsteinfelsformation, die nachweislich schon in der Altsteinzeit von Menschen aufgesucht wurde. Nicht unwahrscheinlich, dass hier die Germanen einen Kultplatz hatten. An einer Seite dieses Felsens findet sich jedoch ein christliches Relief, das die Kreuzabnahme Christi zeigt. Schaut man genau hin, erkennt man etwas weiter unterhalb ein weiteres Symbol, nämlich einen abgeknickten Baum, der unter der Last des Kreuzes leidet. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um ein Bildnis der zerstörten Irminsûl, das Karl als Mahnmal in das heidnische Heiligtum hat eingravieren lassen.14
Das Aussehen dieser externsteiner Irminsûl ist höchst bedeutungsvoll. Es handelt sich um eine sogenannte Gabelsäule, also einen Stamm, der sich am oberen Ende in zwei Richtungen ausbreitet und eine Art „T“ bildet, eben eine columna universalis, eine „Säule, die das All trägt“. Bedeutsam deshalb, weil exakt dieselbe Form im Schamanismus bei den zirkumpolaren Kulturen Eurasiens vorkommt: Bei den Lappen lassen sich solche Gabelsäulen bis ins 17. Jahrhundert nachverfolgen, bei den sibirischen Schamanen sogar bis ins 20. Jahrhundert.
Odin erklettert den Schamanenbaum
Dass der Weltenbaum auch in der germanischen Mythologie eine schamanische Funktion erfüllt, belegt der Mythos von Odin und Yggdrasil. Wie ein Schamane erklettert dieser Gott den Weltenbaum und verharrt neun Tage und neun Nächte kopfüber in den Zweigen, vom eigenen Speer verwundet, hungernd, dürstend:
Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
neun ganze Nächte,
vom Speer verwundet und Odin geopfert,
selber mir selbst,
an dem Baum, von dem niemand weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.
(Hávamál 138)
Im körperlichen und geistigen Ausnahmezustand – in Ekstase – gelangt Odin zur Erleuchtung:
Da begann ich zu gedeihn und klug zu sein
und zu wachsen und mich wohl zu fühlen;
Wort gab mir Wort aus dem Wort,
Werk gab mir Werk aus dem Werk.
(Hávamál 141)
Sakrales Wissen offenbart sich ihm, Runen fallen von den Zweigen. Er wird eingeweiht in die geheimen Künste der Magie, lernt zu ritzen und zu röteln, lernt magische Lieder und Zaubersprüche:
Weißt du, wie man ritzen soll, weißt du, wie man raten soll?
Weißt du, wie man färben soll, weißt du wie man prüfen soll?
Weißt du wie man beten soll, weißt du wie man opfern soll?
Weißt du wie man darbringen soll, weißt du wie man vernichten soll?
(Hávamál 144)
Man zählt dieses Gedicht der Edda zur Weisheitsliteratur. Die Neunzahl (neun Nächte) ist wohl symbolisch zu verstehen: Es sind die neun Welten, die Odin am Stamm des Weltenbaumes durchwandert. Sein Geist durchdringt den Kosmos und gelangt noch in die letzten Winkel der neun Welten. Nach neun Tagen und neun Nächten kehrt er als „weiser Mann“ zurück – als ša-man.
Der germanische Mythos erinnert deutlich an die Selbstopfer, die anzugehende Schamanen im Zuge ihrer Ausbildung erbringen müssen: durch isoliertes Fasten in der Einsamkeit des tiefen Waldes, umgeben von den Tieren und den Geistwesen der Wildnis. Sie sind am ganzen Körper angemalt, stigmatisiert, und für den Rest des Stammes verkörpern sie die ‚Anderen‘, die ‚Toten‘ und die ‚Ahnen‘. Sie sind „aus-der-Kultur-ausgetreten“. Irgendwann beginnt der Initiand zu ‚fantasieren‘ und mit den Waldgeistern zu ‚sprechen‘; diese werden dann zu seinen Freunden und Verbündeten, Krafttieren und Hilfsgeistern. Schließlich wird er selbst zum wilden Tier, dann ist er ein Schamane.
Bei den Burjat-Mongolen in Sibirien gibt es einen schamanischen Initiationsritus, bei dem der Einzuweihende – er ist am ganzen Körper angemalt mit dem Blut eines geopferten Bockes – auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. In der Hand trägt der Initiand ein Schwert (bei Odin ist es der Speer). Auf dem Baum sitzend fällt der Jungschamane in Ekstase. Nicht nur in Sibirien, auch bei den amerikanischen Indianern gibt es diese rituellen Baumbesteigungen. Deshalb haben einige Forscher vermutet, dass es sich bei Odins Runenlied und Weltenbaumgeschichte um das mythische Modellverfahren einer Initiation zum Odinskrieger und Ekstasekünstler handelt – eine ‚Proto-Initiation‘. Odin hat es vorgemacht, er ist der erste Eingeweihte