Schamanismus bei den Germanen. Thomas Höffgen

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Schamanismus bei den Germanen - Thomas Höffgen

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weben. Am Stamm des Weltenbaumes leben die Menschen; er ragt säulenartig hoch empor bis in den Götterhimmel. Die Krone ist der Wohnsitz der Götter. Ein Drache schlingt sich um die Wurzeln, vier Hirsche äsen an den Zweigen, ein Eichhörnchen flitzt entlang des Stammes und obenauf sitzt ein Adler. Der Tau, der vom Weltenbaum zur Erde fällt, wird Honigtau genannt.

      Der Weltenbaum ist keine Fiktion, sondern ein philosophisches Gleichnis. Er ist ein Sinnbild für das harmonische Zusammenwirken aller Dinge und für die kosmische „All-Einheit“. Der Weltenbaum ist ein mikrokosmisches Abbild des Universums, in dem alles sinnvoll ineinandergreift und einen einheitlichen Organismus bildet. Alles steht in Beziehung zueinander, und aus dem Wechselspiel entsteht die Wirklichkeit. Er ist der Baum des Lebens und des Todes, der Baum der Erkenntnis und der Weisheit – der „Nabel der Welt“. Eliade nennt ihn den „Ausdruck der Heiligkeit, der Fruchtbarkeit und Ewigkeit der Welt“ sowie „der absoluten Realität“.10 Der Weltenbaum ist ein kosmisches Symbol und fungiert als eine „Weltachse“ (axis mundi), welche die drei Weltebenen miteinander verbindet: Erde, Mittelwelt und Himmel.

      Es handelt es sich um ein Symbol für die kosmische Ordnung, das in der Mythologie zahlloser Naturvölker angetroffen werden kann: Der Weltenbaum ist ein Archetyp, ein Ur-Bild. Er kommt überall vor, kulturübergreifend und zeitlos, vor allem aber in schamanisch strukturierten Kulturen. In Sibirien zum Beispiel, wo der Begriff „Schamanismus“ ursprünglich herkommt, erzählt man sich,

      […] daß es einen Baum mit vielen Wipfeln gibt. Die Schamanen aus der ganzen Welt werden alle an diesem Baume aufgezogen. Je größer der Schamane nach Bedeutung und Kraft ist, um so höher liegt seine Seele auf dem Baum. Das heißt, die Seele liegt dort in verschiedener Höhe. Die Schamanen selbst sagen gewöhnlich, daß als Erzieher ein Rabe erscheint, der auf den Zweigen dieses Baumes sitzt und die Seele groß zieht.11

      Eine andere Schamanengeschichte aus Sibirien besagt:

      Im Himmel ist ein Baum mit Namen Yjyk-Mas. Sein Wipfel reicht bis in den neunten Himmel, seinen Umfang kann niemand feststellen. Von der Wurzel bis zur Spitze ist dieser Baum mit Auswüchsen bedeckt. Keine freien Zweige sind an ihm zu sehen. In diesen Auswüchsen werden die Schamanen geboren, die Schamaninnen und alle diejenigen, die mit Zauberei und Hexerei bekannt sind. Starke werden am Fuße des Stammes geboren, Schamanen mit voller Kraft entstehen an der Wurzel des Baumes in einem Auswuchs, der groß ist wie ein kleiner Grabhügel.12

      Nun ist der Weltenbaum für den Schamanen aber nicht nur eine Metapher für die Harmonie des Kosmos, sondern auch – ganz praktisch – eine Verbindungsachse zwischen den Welten, an der er in das Reich der Götter, Geister und Dämonen klettert: Im veränderten Bewusstseinszustand imaginiert der Schamane diese Achse, um an ihren Sprossen in die Anderswelt zu klettern und sich bei der Reise in das Jenseits orientieren zu können. Der Weltenbaum wird auch Seelenranke genannt, weil der Schamane an ihr ins Wolkengeisterreich des Himmels fliegt. Der Weltenbaum ist gleichfalls die Liane, die der Schamane in den Händen hält, wenn er in das unterirdische Reich der Toten eintritt. Das Bild vom Weltenbaum ist eine Art kognitive Landkarte, die der Schamane stets vor Augen hat, wenn er in Ekstase tritt.

      In der germanischen Mythologie heißt es übrigens, dass in der Krone des Weltenbaums eine „schwankende Himmelsstraße“ (bifröst) oder Regenbogenbrücke erscheint, die den Himmel und die Erde miteinander verbindet: Die Götter nutzen diese Brücke, um in die Menschenwelt zu reiten. Warum sollten nicht auch die Menschen auf demselben Weg das Götterreich begehen können?

       Die neun Welten

      Der Weltenbaum strukturiert das Universum. Er ist die „All-Säule“, an deren Ästen die Seele des Schamanen in die verschiedenen Weltebenen klettert. Meistens unterteilt der Weltenbaum den Kosmos in drei Dimensionen, es können aber auch neun (3x3) oder zwölf (3x4) sein. In der germanischen Mythologie gibt es neun Welten, so weissagt die Seherin der Edda:

      neun Welten gedenk ich, neun Ästen

      des herrlichen Weltenbaums unter der Erde.

      (Völuspa 3)

      Zwar ist an keiner Stelle genau überliefert, wie sich die neun Welten Yggdrasils konstituieren. Doch werden in der germanischen Mythologie verschiedene Weltennamen genannt und kontextualisiert, die sich durchaus sinnvoll zusammenfassen lassen. Von einem ‚genormten Weltenbaum‘ ist bei den Germanen ohnehin nicht auszugehen, sondern von stammgebundenen individuellen Ausformungen (Varianten) ein und derselben Sache (Mythologem). Bei der folgenden Darstellung handelt es sich um eine Rekonstruktion der neun Welten Yggdrasils unter Einbezug der Ausführungen von Snorri Sturluson:

       OBERE WELT

      1. Asgard heißt die prunkvolle Wohnstätte des Göttergeschlechtes der „Asen“, zwölf Himmelsburgen aus Gold und Silber, umgeben von gigantischen Mauern. Hier hat Odin seinen Hochsitz. Hierhin kommen die Helden – die Einherjer – nach dem Tode: Zu Odin (Walhall) oder Freyja (Folkwang). Die Regenbogenbrücke Bifröst reicht von Asgard in die Menschenwelt Midgard.

      2. Wanenheim ist der Name der Wohnstätte der Wanen, des zweiten Göttergeschlechtes der Germanen. Hier haben die Geschwister Frey („Herr“) und Freyja („Herrin“) ihren Sitz, alte, vielleicht vor-indoeuropäische Fruchtbarkeitsgötter. Freyja ist auch die Göttin der Liebe und der Magie, die ‚Venus des Nordens‘.

      3. Lichtalbenheim ist der Ort, an dem die Lichtalben leben, also das Feenreich. Alben bzw. Elfen sind Naturgeister, die in den Phänomenen erscheinen, in Pflanzen, Steinen oder Bächen. Sie sind lieblich-zarte Lichtwesen, die an Sonnenstrahlen erinnern und im Morgentau tanzen. Beim „Álfablót“ brachten die Germanen ihnen Opfer dar.

       MITTLERE WELT

      4. Midgard heißt die Menschenwelt, die Welt, wie wir sie kennen. Midgard ist zugleich die Bezeichnung für die Hecke, die das germanische Gehöft vom Wald abgrenzt, bezeichnet also den vom Menschen kultivierten Lebensraum im Gegensatz zur Wildnis. Im mythologischen Bewusstsein der Germanen wird Midgard von der Midgardschlange umschlungen.

      5. Jötunheim ist das Reich der Riesen, Elementarwesen, die die Naturgewalt verkörpern. Jötunheim wiederum liegt in Utgard, das ist die „Außenwelt“, die Welt außerhalb von Midgard. In der Volksdichtung werden Riesen in Zusammenhang gebracht mit den wilden Leuten, also Menschen, die aus rituellen Gründen den vertrauten Lebensraum verlassen und „aus-Midgard-heraus-treten“.

      6. Muspellsheim liegt im Süden, wo das Feuer dominiert; hier leben die Feuergeister und Feuerriesen. Die Funken des Feuerlandes sind die Gestirne am Firmament: Sonne, Mond und Sterne. Das Feuer ist aber auch ein Symbol für die Erkenntnis und die Wesensschau, den Geistesblitz, man denke nur an die Erfindung des Feuermachens mit dem Feuerstein.

       UNTERE WELT

      7. Schwarzalbenheim wird die Wohnstätte der Zwerge, Kobolde und Erdgeister genannt. Diese Wesen leben unterirdisch in Höhlen und Gebirgen oder unter Bäumen, sind zauberkundig und kräftig und manchmal etwas eigenwillig. Sie lieben (Edel-)Metalle und Waffen und sind vorzügliche Schmiede. Schwarzalben sind nicht ‚schwarz‘ im Sinne von ‚bösartig‘, sondern ‚erdverbunden‘.

      8. Niflheim liegt im Norden, wo das Eis ist. Ein Wolkenschleier zieht sich über diesen Ort: Niflheim heißt „Nebelheim“. Volkstümlich wird der Herbst- bzw. Winternebel mit dem Erscheinen der Geister assoziiert. Doch nicht nur kalter Nebel steigt hier auf, sondern auch kochend-heißer Dunst:

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