Ich kann mir die Arbeit nicht leisten. Rainer Voigt
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Die Lohnüberweisung war das reinste Desaster. Für die Arbeit des ersten Monats, davon vierzehn Tage Montage in den alten Bundesländern, gab es gerade einmal 83 Euro mehr, als das Arbeitslosengeld betragen hatte, rund 885 Euro. Diese 83 Euro wurden aber mehr als aufgebraucht durch die damit verbundenen Unkosten, wie Verpflegungskostenmehraufwand, Fahrkosten zu den einzelnen Arbeitsstellen (auch wenn mit dem Jahressteuerlohnausgleich ein kleiner Teil als Rückerstattung wieder zurück kommt), den Dauerbetrieb der Waschmaschine am Wochenende für die Arbeitssachen, Arbeitsschutzschuhe und nicht zu unterschätzen die fast wöchentlichen Fahrten zur Zeitarbeitsfirma, natürlich in der Freizeit. Für diese „immense“ Lohnzahlung gibt es auch noch einen Haken: fast eine weitere Hälfte unbezahlter, aber erforderlicher Stunden als Fahrzeit, unbezahlte Anfahrten zu den Großhändlern, Wartezeiten, weil ein Monteur verschlafen hatte usw. Die privaten Belange wurden der Arbeit völlig untergeordnet und blieben dabei auf der Strecke. In dieser Konstellation kommt Frank-Peter zu dem Schluss, dass er lebt um zu arbeiten, nicht umgekehrt, wie ihm schlaue Personaltrainer in unzähligen Schulungen einzureden versuchten. Zu den Fahrkosten hatte Frank-Peter vor Jahren einmal eine interessante Studie des ADAC gelesen. Demnach sind die Spritkosten nur ein kleiner Teil der tatsächlichen Kosten. Fahrzeugversicherung, Unterhaltungskosten, Abschreibung …, wenn Frank-Peter dieses alles in seine Rechnung einbezieht, muss er zwangsläufig feststellen, dass sich die Arbeit nicht lohnt. Mit dem realen Nettolohn, also abzüglich der oben angeführten umfangreichen Nebenkosten, liegt Frank-Peter mit seinem Einkommen deutlich unter Hartz IV. Der Vollständigkeit halber sei aber erwähnt, dass für den ersten Monat eine Woche fehlt, der Start war am 07. 06. 2010! Trotzdem stellt sich die Frage, ob sich Frank-Peter die Arbeit überhaupt leisten kann? Legt er sich dagegen zu Hause in seinen Sessel, bezieht Hartz IV (sofern er bezugsberechtigt wäre), hat er alle diese Ausgaben nicht und es bliebe am Ende sogar noch mehr übrig. Er könnte dann auch mit Schwarzarbeit hier und da ein paar Euro hinzu verdienen. Der Markt dafür ist riesengroß. Wenn er, wie er später noch feststellen wird, offiziell bei einem Kunden einen Schalter wechselt, ist eine Anfahrtspauschale, mindestens eine halbe Stunde Arbeitszeit und die zu vernachlässigenden Materialkosten fällig. Alles in allem sind das etwa 70 Euro. Für 25 Euro wechselt Frank-Peter diesen Schalter als Schwarzarbeit. Es wird immer gesagt, Schwarzarbeit macht die Wirtschaft kaputt. Das trifft bestimmt dort zu, wo ganze Grundstücke in dieser Art entstehen. Nicht selten sind die Bauherrn Juristen und andere Personen des öffentlichen Lebens. Die kleinen Handlangungen dagegen würden niemals beauftragt werden, wenn die offiziellen Gebühren erhoben werden würden. Das kann sich der kleine Mieter mit seinem schmalen Einkommen oder seiner Bonsai-Rente nicht leisten, zumal in den meisten Mietverträgen steht, dass Kleinreparaturen bis 70 Euro, neuerdings meistens bis 100 Euro vom Mieter selbst zu tragen sind. Warum eigentlich? Ist die Miete nicht schon genug? Diese Aufwendungen fehlen also in den Aufrechnungen niemals!
Am 26. 07. 2010 arbeitete Frank-Peter mit dem seit einer Woche aus dem Urlaub zurück gekehrten Marco Rechenberger7, Thilo Eckert hatte für einen Tag vorbereitende Arbeiten in der Firma zu erledigen. In ihrem Materialraum mussten sie Lampen für die Installation vorbereiten. Die werksseitig montierten Kabel waren zu lang und mussten gekürzt werden. Dabei erzählte der sonst so wortkarge Marco Rechenberger, dass seine Eltern beide arbeitslos seien und Hartz IV bezogen. Seine Mutter, Jahrgang 1955 ist gelernte Verwaltungsfachfrau, sein Vater, Jahrgang 1951, also ein Jahr älter als Frank-Peter, Kfz-Elektriker. Er ist schon so lange arbeitslos, dass er keinen Mut mehr hat, eine Arbeit anzunehmen. Er traut sich den heutigen Stress einfach nicht mehr zu. „Wirkt sich das nicht aufs Familienleben aus?“, fragte Frank-Peter. Marco Rechenberger nickte stumm und nachdenklich.
Abends traf Frank-Peter im seinem Wohnhaus einen Mitbewohner, der seit kurzer Zeit Rente bekam. „Die haben mir den Abschied wahrlich sehr leicht gemacht“, sprach Dietmar Dullmann, einst Hausmeister mit Leib und Seele in einer der größten Wohnungsgenossenschaften Deutschlands. Erst haben sie allen 90 Hausmeistern den Lohn um 400 Euro gekürzt, weil das Unternehmen angeblich rote Zahlen schreibt. Es muss gespart werden, hieß es. Dietmar Dullmann, die nahe Rente schon sicher, fragte auf einer Betriebsversammlung: „Der Bereich Hausmeister besteht doch nicht nur aus den 90 Hausmeistern, sondern auch noch aus einer Verwaltung und einer nicht mal geringen Führungsetage. Werden dort auch solche Einsparungen vorgenommen?“ Es wurde dort nicht gespart, sagte er verbittert zu Frank-Peter. Als nächstes sollten die Überstunden, die noch aus dem vergangenen Jahr stammten, ersatzlos gestrichen werden. Dietmar Dullmann ist sofort zum Betriebsrat und hat damit gedroht, vor Gericht gehen zu wollen. Seine Überstunden wurden daraufhin nicht gestrichen, wohl aber die aller anderen Hausmeister, die sich nicht trauten, den Mund aufzumachen. Deren Zeit bis zur Rente ist noch bedeutend länger und die Möglichkeit, missliebige Kollegen zu kündigen schwebte wie ein Damoklesschwert über deren Häuptern. Erpressung mit staatlicher Genehmigung?
Am Dienstag erfuhr Frank-Peter, was für vorbereitende Arbeiten Thilo Eckert in der Firma gemacht hatte. Er durfte Leuchtenteile für die große Halle umlackieren. Die Firma hatte weiße bestellt und silberfarbene sollten eingebaut werden. Weiß ist die Standardfarbe und ohne Preisaufschlag zu bekommen, konnte Frank-Peter später bei anderen Produkten feststellen. Der Chef war dagegen, dass Thilo Eckert die Umlackierung auf der Baustelle vornimmt, denn das darf keiner sehen, sagte er. So gab es also einen Tag Innendienst für Thilo Eckert und neue Erfahrungen beim Umgang mit Sprayflaschen und Felgenlack.
Auf der Gerüstdecke arbeitete auch ein Malermeister. Der war damit beschäftigt, die ursprüngliche Farbgebung wenigstens an einem kleinen Teil der Decke als Hommage an den Denkmalschutz wieder herzustellen. „Warum wird nicht die ganze Decke so gemalt?“, fragte Frank-Peter. Der Malermeister schaute über seinen Brillenrand und machte eine unmissverständliche Körperbewegung. „Das ist viel zu teuer!“, und mit einem Blick auf die von Frank-Peter und Marco Rechenberger installierten Lampen, die zum Leuchtenwechsel an einem eingebauten Lift herabgelassen werden können mit einem verschmitztem Augenzwinkern: „weil eure Lampen zu viel kosten!“ In einer anderen Halle zeigte Thilo Eckert Frank-Peter, wie dort damals die Farbgebung vorgenommen wurde. Die gesamte Wand wurde mit einem farbigen Putz versehen. Anschließend wurde eine zweite, andersfarbige Putzschicht darüber aufgetragen und das gewünschte Muster so tief ausgeschnitten, dass dort die erste Farbschicht sichtbar wurde. Im Rahmen der Rekonstruktion hat man sich aber dort nur auf Farbe verlassen. Die Grundsteinlegung für das gesamte Areal war 1953. Damals hatte das geschundene und mit vielen Kriegsnarben verunstaltete Land die Mittel aufbringen können, die gesamte Decke der riesigen Halle und die Wände der anderen Hallen farblich anspruchsvoll zu gestalten und eine regelrechte Talentfabrik für Künstler entstehen zu lassen.
In den Medien wurde in diesen Tagen eine Statistik veröffentliche. Demnach stieg in Deutschland und überproportional in Ostdeutschland zum einen der Anteil an Minilohn-Empfängern und zum anderen war bei Neueinstellungen der Anteil der Zeitarbeiter von 25 % in Januar auf über 34 % gestiegen. In Ostdeutschland hatten 2008 fast 13 Prozent der Beschäftigten in den neuen Ländern einen Stundenlohn von unter sechs Euro. Im Westen seien es dagegen 5,4 Prozent gewesen. Jeder fünfte Beschäftigte (20,7 Prozent)8 erhielten 2008 einen Niedriglohn. Nach einer OECD-Definition heißt das, Betroffene im Westen bekamen weniger als 9,50 Euro, in Ostdeutschland weniger als 6,87 Euro brutto pro Stunde. Etwa jeder dritte Geringverdiener (gut 2,1 Millionen) arbeitete sogar für Stundenlöhne unter sechs Euro brutto, 1,15 Millionen für weniger als fünf Euro. Seit 1998 ist die Zahl der Geringverdiener um fast 2,3 Millionen gestiegen! Sind denn die Ossis alle doof? Gibt das nicht auch mit der damit verbundenen Kaufkraft eine Rückwirkung auf die Industrie und den seit 20 Jahren erwarteten Aufschwung? Schlaue Gewerkschaftsfunktionäre deuteten dies als eine staatlich gewollte Maßnahme zur Lohnsenkung. Der DIHT-Präsident