Blondinenrettung. Volker Müller
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In den folgenden Wochen und Monaten geschahen dann Dinge, über die sich die meisten Grincaner nicht genug wundern konnten und an die man sich in späteren Jahren nicht selten mit einer gewissen Wehmut erinnerte. Binnen kurzem spielte auf Veranlassung des fremden Kommandanten nämlich das Theater wieder, was angesichts der beschränkten und in vielem noch ungeordneten Verhältnisse einem kleinen Wunder gleichkam. Das städtische Sinfonieorchester, dessen Arbeit in den letzten Kriegsmonaten gleichfalls geruht hatte, begann wieder zu proben, eine Musikschule wurde gegründet, es fanden in loser Folge Buchlesungen, Vorträge, Kammerkonzerte statt. Nie wieder, hieß es später, habe es so viele und so gut besuchte Kulturveranstaltungen in Grincana gegeben. Und je mehr Zeit ins Land ging, umso mehr fragte man sich, wie das möglich gewesen war, wo doch damals alles am Boden lag, und warum heutigentags das Leben so gemächlich, ohne rechte Höhepunkte, Freude und Bewegung verlief.
Mitten in dieser turbulenten Aufbauzeit, inzwischen hatte der sarkundische Major seinen Platz im Rathaus bereits wieder geräumt und dort jetzt die kürzlich landesweit gegründete Geeinte Sozialistische Arbeiterund Bauernpartei das Sagen, wurde wie es nachmals so schön hieß die Idee geboren, aus der „Bürgererholung“, einer kleinen Parkanlage am Bahnhof, einen Dichtergarten zu machen. Unter den mächtigen Kastanien, Linden und Ahornen, die einst fleißige Gärtnergesellen gesetzt hatten, war im Grincanaer Amtsanzeiger zu lesen, sollten bald schon in Reih und Glied Büsten großer Männer des Wortes stehen. Bedingung war: Sie mussten sich zu Lebzeiten auch als große Humanisten und beispielhafte Vorkämpfer einer sozial gerechten Ordnung ausgezeichnet haben. Allen voran war dabei an die beiden Klassiker der Weltliteratur Jost Henry von Broeder und Ferenc Karl von Schaller gedacht. Aber auch eine Reihe weiterer Dichter, Schriftsteller, Philosophen, Literaten, namentlich solche, die den revolutionären Strömungen ihrer Zeit nahestanden, kämen in Frage. Auf diese Weise, hieß es in dem Beschluss des Stadtrats weiter, solle der notwendige geistige Neuanfang in Grincana dokumentiert und zugleich weiter befördert werden, solle unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass man fest gewillt sei, im täglichen Leben und Wirken den von tiefer Menschlichkeit geprägten Idealen dieser großartigen, beispielhaften, stets dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichteten Dichter und Denker gerecht zu werden. Der Erklärung war außerdem zu entnehmen, dass in jenem Dichtergarten regelmäßig literarisch-musikalische Veranstaltungen stattfinden sollten, vornehmlich zu den Geburts- oder Todestagen der dort geehrten Bannerträger der Gerechtigkeit und Völkerverständigung, aber auch anlässlich ausgewählter Höhepunkte im gesellschaftlichen Leben.
Die junge Bildhauerin Anna Hahn, die knapp ein Jahr vor Kriegsende ihr Studium abgeschlossen und danach in einer Munitionsfabrik gearbeitet hatte, wurde in jenen Tagen überraschend ins städtische Kulturamt bestellt. Was hat das zu bedeuten, fragte sie sich, und ging mit einem doch recht mulmigen Gefühl zur angegebenen Zeit ins Rathaus. Sie war in der Radara-Ära in keiner Weise hervorgetreten, hatte sich gleich gar nicht, wie sie meinte, in irgendeiner Form schuldig gemacht. Aber wenn man etwas finden wollte, wer weiß … Andererseits: Würde man sie in einem solchen Fall ins Kulturamt bestellen? Dafür waren vermutlich andere Stellen zuständig. Nach allerlei treppauf treppab stand sie schließlich immer noch tüchtig hin- und hergerissen vor der Tür mit der Aufschrift „Die Ämter Kultur, Volkserziehung, Gesundheit.“
Doch alles kam besser als gedacht.
„Sie können sich freuen, junge Frau. Genosse Döring hat, so viel darf ich Ihnen sagen, viel mit Ihnen vor“, sagte freundlich lächelnd die Mitarbeiterin im Vorzimmer, eine hochgewachsene ältere Dame, deren gepflegte Erscheinung zutiefst im Widerspruch zur spartanischen Einrichtung des Raums stand, den zwei wackligen Stühlen, dem abgewetzten Küchenbüfett, das als Aktenschrank diente, einem sich schon bedenklich zur Seite neigenden Tisch, dem verbeulten Kanonenofen, der fleckigen und verschiedentlich sich hässlich wellenden Tapete.
„Herr Döring sitzt hier, das hab ich ja gar nicht gewusst …“
„Ja, Genosse Döring, wäre gut, wenn Sie sich künftig so ausdrücken würden, ist seit einigen Wochen Stadtrat für Kultur, das sollte ihnen aber eigentlich bekannt sein“, bekam sie da von der Mitarbeiterin zu hören. Anna kannte Döring. Er war, bis ihn die Radara-Leute wegen seiner Ansichten, er war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei gewesen, aus dem Schuldienst entließen, ihr Kunstlehrer in Grincana gewesen. Sie glaubte auch zu wissen, dass er mehrere Jahre in einem sogenannten Umerziehungslager schlimmen Repressalien ausgesetzt und erst nach Kriegsende wieder freigekommen war.
Da stand Döring auch schon in der Tür und bat sie in sein Büro, in dem es um keinen Deut besser aussah als im Kabuff seiner Mitarbeiterin, die im Übrigen auch noch für die Ämter Volkserziehung und Gesundheit zuständig war. Döring, der trotz seiner schlohweißen Haare und seines erschreckend bleichen Gesichts etwas erstaunlich Biegsames, Jugendliches ausstrahlte, sagte: „Schön dich zu sehen, Anna. Hoffe, dir geht’s gut. Kollegin Brandner hat dir sicher schon eine kleine Andeutung gemacht, weswegen du … aber ehe wir dazu kommen, wie ist’s euch ergangen, wie geht es euch?“
Anna schrak zusammen. Eine solche Frage hatte sie nicht erwartet. Sie entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. Das war immer noch das Beste. Sie erzählte, dass die Eltern, als sie zu Besuch bei Verwandten in der großen Stadt Kitumen waren, bei einem Bombenangriff ums Leben kamen. Der Bruder sei gleich zu Beginn des Krieges gefallen. Sie habe noch eine Tante und zwei Cousinen, aber die wohnten alle weit weg. Sie sei in Grincana geblieben, weil sie den Eltern versprochen hatte, das Haus am Waldberg um keinen Preis in Stich zu lassen.
„Das hat sich ja nun anderweitig erledigt“, sagte Döring trocken. Die Villa war von der Besatzungsmacht zum Allgemeinbesitz erklärt und dort durch Krieg und Nachkrieg obdachlos gewordene Kinder untergebracht worden.
„Nun setz dich aber erst mal. Wo wohnst du jetzt?“
„Hab’s noch ganz gut getroffen. Kann mich nicht beklagen. Bin bei Otto Mörike untergekommen.“
Anna hatte sich vorsichtig gesetzt, während Döring stehen blieb.
„Der Steinmetz. Na, der hat sich sicher was gedacht dabei.“
„Nach der Arbeit in der Weberei helf ich bei ihm.“
„Du arbeitest in der Weberei? Ja? Na gut, es kommen auch wieder mal andre Zeiten. Und da sind wir eigentlich schon beim Thema. Ich habe mich in der Sache Dichtergarten ja nicht ohne Grund für dich stark gemacht. Wäre schön, wenn du uns in Zukunft treu bleibst und nicht wie mancher andere kluge Kopf einfach so davonschwirrst. Wir wollen ja wieder eine Kunst- und Kulturstadt werden.“
„Dichtergarten, ich versteh nicht …“
„Nun, du hast doch sicher gelesen, was wir in der ‚Bürgererholung‘ vorhaben …“
„Ja, hab ich, dort sollen irgendwelche Büsten aufgestellt werden.“
„Ja meine liebe Anna, und da …“
„… soll ich mitmachen, ich, nein, das glaub ich nicht, das …“
Döring lächelte und nickte.
„Ich hab dich nach reiflicher Überlegung vorgeschlagen und man ist, ich will es einmal so sagen, bis dato auch nicht abgeneigt, es mit dir zu versuchen.“
„Was heißt mit mir zu versuchen, doch nicht etwa …
„Doch doch. Du sollst das in die Tat umsetzen, von Anfang bis Ende,