Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann
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Mutters Haus war groß, er war mit eingezogen, als sie sich nichts mehr zu essen machte, und dann hatte er seine Arbeit bei einer Versicherungsgesellschaft aufgegeben.
»Du mit deiner Schafsgeduld, Henry«, hatte Wilhelm gesagt, »du machst das, bist außerdem der Jüngere.« Henry hatte ihn nur angesehen. Wie war das bloß möglich gewesen, dass Wilhelm ihn, Heinrich Brosche, einfach Henry nannte und dann sein Leben lang dabei blieb? Aber den Gefallen würde er ihm nicht tun, mehr als das Nötigste mit ihm zu reden oder ihn gar »Willi« zu nennen.
Der Umzug war kein großes Problem. Die wenigen Möbel, die sich Henry im Westen angeschafft hatte, ließ er einfach in seiner Wohnung stehen. Er nahm nur seine Bücher und Schallplatten und seinen Kleiderschrank samt Inhalt mit.
Ihm blieb sein Auto. Jeden Samstag nach dem Hausputz überprüfte er, ob noch alles funktionierte, ob der Wagen sauber und startbereit in der Garage stand, in der Woche träumte er, darin zu sitzen, mitten in der ruhigen, leicht nach Kunststoff riechenden Eleganz des Cockpits, er dachte an das Summen des Motors, wenn er ihn startete und sanft beschleunigte, und daran, wie er sich weich in die Kurven legte. Immer noch staunte Henry über den Luxus, den ein solches Gefährt in sein Leben brachte. Eigentlich hätte er auch jetzt das Auto regelmäßig bewegen können, Hella Schulze, die Nachbarin, bot ihm an, nach der Mutter zu schauen, aber er lehnte ab. Der Tag, an dem er an den See fahren würde, musste vorbereitet sein.
Als dann die Mutter aufhörte, nach ihm zu rufen und ihren Tee zu verlangen, wusste er, dass es bald so weit sein würde.
Der Tag nach der Beerdigung war ein Frühlingstag, sonnig mit kleinen Wolken, er sah die Cabrios vor den Häusern, die Nachbarn fingen an, die Erde in den Vorgärten aufzulockern.
Einige Zeit fuhr er die Landstraßen entlang, bemerkte neue Schnellstraßen auf Brücken und Fahrradwege an den Seitenrändern, Wälder, an die er sich nicht erinnerte.
Als die blasser werdende Sonne hoch stand, zögerte er an jeder Kreuzung: Sollte er umkehren? Aber hinter der nächsten Kurve musste der See sein, und er konnte doch jetzt nicht aufgeben. War das Wasser nicht schon zu riechen? Stieg ihm nicht schon eine Mischung aus Algen und trockenem Ufergras in die Nase?
Und dann war es so weit. Hinter der letzten Kurve breitete sich die spiegelnde Fläche vor ihm aus.
Henry hielt am Straßenrand und schluckte.
Hellgrünes Laub vor dem glitzernden Wasser, rotbraune Dächer, ein grauer Zwiebelturm, alles andere blau und glänzend, wasserblau, bergblau, himmelblau!
»Stadt am See« stand auf dem Schild. Er würde durch die Straßen schlendern und einen Kaffee trinken. Danach zur Uferpromenade. Kann man hier angeln? Früher war er an keinem Gewässer vorbeigegangen, ohne nachzuprüfen, welche Möglichkeiten zum Angeln es bot. Aber das war lange vorbei.
Den Ortskern wollte er nicht anfahren, er würde sein Auto gleich hier in einer der Siedlungen am Rand abstellen und den Fußweg in die Innenstadt suchen. Sorgfältig überprüfte er den Standort: kein Parkverbot, keine Parkuhr, Parkscheibe nicht erforderlich. Sein Auto hatte keine Zentralverriegelung, er stand einen Augenblick lang unschlüssig, während sein Blick den sauberen Seitenspiegel streifte, schloss noch einmal auf und nahm den Stockschirm von der Rücksitzbank. Wie lange hatte er diese Stadt schon besuchen wollen?
Hier gab es viele Cafés und einen Buchladen. Sorgfältig wählte er ein Buch aus, das mehr Fotos enthielt als Text. Lange hielt er es in den Händen und blätterte darin. Hier gab es Bücher, die auf keiner Bestsellerliste standen und auch nicht gerade erst erschienen waren.
In den letzten Jahren hätte er jedes von ihnen online bestellen können, aber das war ihm nicht möglich.
Er musste an Büchern riechen, um zu wissen, ob sie in sein Leben passten. Wenn er eines kaufte, hatte er heimlich Angst, es könnte so gut sein, dass er es mit niemandem teilen wollte. Es durfte von keinem anderen Menschen gelesen werden, es musste ganz und gar seines sein. Die Vorstellung, dass er mit dem Buch nicht alleine wäre, machte ihm den Kauf schwer.
Henry zahlte und steckte das Buch mit dem glänzenden blauen Umschlag in seine Jackentasche.
Als es zu regnen begann, ging er zum See. Durch den Regen roch es nach Wiesen, nach Kindersommern an der Elbe oder am Coswiger Weiher. Er bückte sich nach einem Steinchen, das über das Wasser schnellte. Hatte er das früher auch getan?
Plötzlich legte er den Schirm auf eine verlassen dastehende Bank an einem Spielplatz und lief ohne nachzudenken los. Seine Beine, die Füße, alles geriet in Bewegung. Er probierte, wie es war, mit den Armen zu schlenkern, im Takt der voranlaufenden Beine. Stehen bleiben und die Arme um sich werfen, bis es ihn schwindelte. Gut, dass ihn keiner so sehen konnte. Als sich sein Atem beruhigt und er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, gab es die Stadt nicht mehr, nur noch den Himmel und den See.
Plötzlich fing die Wasserfläche an, in sich zusammenzufallen, sie wurde kleiner, die Ränder unscharf. Henry erschrak. Es waren hundertzwanzig Kilometer bis nach Hause. Im Dunkeln zu fahren, hatte er verlernt.
Er drehte sich um und hastete auf die Häuser zu. Das Café, in dem er gesessen hatte, die Buchhandlung, die Drogerie an der Ecke. Alle Geschäfte geschlossen, die Straßen verlassen.
Dort, diesen Hügel hinauf musste er gehen, dann rechts in die Seitenstraße einbiegen. Oder links? Er keuchte. Der Berg war ihm nicht so steil in Erinnerung gewesen, der Regen wurde kalt.
Diese schmale, das musste die Straße sein, er ging sie hinauf und hinunter, trat mit letzter Kraft wieder auf die Bergstraße und bog nach rechts ab. Am Ende einer Gasse ließ sich Henry auf eine Bank fallen. Die stand heute Nachmittag noch nicht da, dachte er, nein, er war vorhin nicht hier gewesen, er war noch nie hier. Erschrocken schaute er auf die Uhr. Hier gab es einen Bahnhof, eine Eisenbahn oder S-Bahn, er wusste es nicht genau. Aber lange würde sie abends nicht fahren.
Er würde morgen wieder kommen und dann in Ruhe und ohne den Regen herausfinden, wo sein Auto stand. Henry hatte Glück. Der letzte Zug ging um acht Uhr, er würde eineinhalb Stunden später zu Hause sein. Im Abteil lehnte er sich an das Fenster. Bevor er einnickte, lauschte er auf die seltsame Melodie in seinem Inneren.
Am nächsten Tag war er gegen Mittag am See. Wilhelm hatte ihn am Telefon festgehalten, er wollte wissen, wann sie Mutters Möbel verteilen würden, »heute nicht, heute geht es nicht«, sagte Henry.
»Wann denn?«, Wilhelm wurde aggressiv.
»Ich rufe dich an.«
Das hatte ihn zwei Stunden gekostet, der erste Zug wäre um acht gegangen, der zweite um zehn.
Auf den See war neues Licht gefallen.
Bataillone von Schaum, kein Schiff, dachte Henry. Und: Ich muss mir einen Stadtplan besorgen.
Nach wenigen Wochen kannte er fast alle Straßen der Stadt am See, die Geschäftsleute grüßten ihn auf dem kurzen Weg vom Bahnhof, wenn er an den Schaufenstern vorbeikam. An der Uferpromenade setzte er sich auf die Bank neben seinen Schirm und breitete den Stadtplan aus. Ein neues Wohngebiet würde er sich heute ansehen, diesmal das auf der rechten Seite der Ortseinfahrt.
»Was