Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann

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Zeit wie Wasser - Christiane Höhmann

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schnell gehen.

      Beim nächsten Blick wären schon die Blütenstände zu sehen und nicht lange danach würde ihm der Duft der Kastanien am Eingang des Friedhofs entgegenströmen.

      »Wo sind eigentlich die Pappelbilder?«, fragte Henry jetzt laut und eine schwarz gekleidete Frau in der übernächsten Gräberreihe warf ihm einen erschreckten Blick zu. Er hob die Hand und winkte ihr beruhigend zu, bevor er umständlich aufstand, nach dem Spaten griff und dem Rechteck mit dem schwarzen Marmorstein den Rücken kehrte.

      »Hast du Backpulver da?«, Hella Schulze stand in der Tür, Bernds Frau, daneben der Hund namens Daisy, der unruhige Kreise um sie zog. Henry hatte aus dem Fenster geguckt und sich die Haare gekämmt, als er das Klingeln hörte.

      An manchen Tagen zog er sich jetzt erst spät an, Hosen und Jacken aus Sweatshirtstoff, das ersparte ihm das Bügeln.

      Diese Trainingsanzüge allerdings waren ein Abstieg, dachte er. Nicht einmal in der Zeit, als er noch den Wodka trank, hatte er sich ein unkorrektes Aussehen durchgehen lassen. Jedenfalls nicht tagsüber.

      »Backpulver? Ja«, er ging zerstreut in die Küche. Hella blieb vor der Türe stehen und rührte sich nicht, bis er wiederkam.

      »Ich habe gar kein Backpulver, ich backe ja nicht.«

      Sein Ton war schroffer als beabsichtigt. Als er ihren Blick auffing, legte er den Kopf schief und grinste versöhnlich.

      »Ist was mit dir?«, fragte sie.

      »Was soll sein?«, er stellte den Kopf wieder gerade und musterte sie.

      Sie sah so aus wie immer, wenn sie zur Arbeit ging. Eine dunkle Hose und ein T-Shirt unter einer Steppweste, die wohl die kräftigen Oberschenkel kaschieren sollte.

      Damals bei dieser Tanzveranstaltung im Stadtteilpark trug sie ein Kleid in einem dunklen Blauton, in der Taille eng, der Rock locker und bis zum Knie.

      Bernds Hella kleidet sich wie Mutter, hatte er gedacht. Nein, nicht wie Mutter. Wie Mutter früher. Sie hatte Ähnlichkeit mit der Frau, der er als Kind hinterhergesehen hatte, wenn sie sich durch den Flur zur Haustür bewegte und ihr Parfüm für kurze Zeit im Raum zurückblieb.

      »Ach, Henry«, Hella bewegte plötzlich den Arm und er befürchtete schon, dass der bei ihm ankommen und auf seinem Arm landen würde. Aber nein, der Arm beschrieb eine Kurve und die Hand landete auf ihrem Bauch unter der Weste, als müsse sie irgendwo untergebracht werden.

      Hella redete weiter, als ob sie selbst nicht wüsste, welchen Anblick sie nun bot.

      »Unser Hund, die Daisy«, sie fing an, mit der anderen Hand im weißen Fell des Hundes herumzuwühlen, »könntest du vielleicht mal mit ihr rausgehen, ich meine, sie ist so oft alleine, weil ich doch Schichtdienst habe im Krankenhaus und …«

      Nein, dachte Henry. Was soll das werden? Beschäftigungstherapie für den trauernden Hinterbliebenen?

      »Ich bin allergisch gegen Hunde, weißt du, du Gute«, sagte er, bewegte den Blick von Hella zu Daisy und fing an, sich den Ellenbogen zu kratzen. Hella beugte sich zu dem weißen Zottelfell hinunter und sprach auf den Hund ein, als habe Henrys Bemerkung ihm tiefe Verletzungen zugefügt, streichelte ihn, nickte ihm zu, die Weste ging auf, der Stoff ihrer Bluse, auf dem gerade noch ihre Hand gelegen hatte, spannte. Henry wandte seinen Blick wieder ab und klopfte rhythmisch auf den Türrahmen.

      »Danke«, sagte Hella und drehte sich um.

      Henry schloss die Tür und ging in die Küche. Das Basilikum auf der Fensterbank sah so schlaff aus wie nach einer Dürreperiode mit nachfolgendem Sturzregen.

      Er warf den Topf in den Mülleimer.

      Heute würde er kochen, und zwar so wie für Mutter in der Zeit, als er ihr das Essen auf einem Tablett ins Zimmer gebracht hatte. Rouladen mit Rotkohl, ihr Lieblingsessen. Schinken brauchte er, Senf und zartes, abgehangenes Rindfleisch. An der Garderobe griff er nach einer Jacke. Erst als er sie anhatte, bemerkte er, dass es eine Sommerjacke war, die schon seit den Fahrten zum See hier hing. Sachen nicht ordentlich wegzuhängen, war eigentlich nicht seine Art. Er fasste in die Jackentaschen und befühlte den Inhalt. Ein gefaltetes, weißes Taschentuch, ein verpacktes Hustenbonbon und – das Buch, das er in dem Buchladen in der Stadt am See gekauft hatte.

      Monatelang war es an diesem Platz gewesen, und wann immer er im Sommer eine Jacke anziehen musste, hatte er nachgefühlt, ob es noch da sei. Aber nie hatte er es aus der Tasche genommen und aufgeschlagen.

      Henry brachte die Jacke in den Keller und setzte sich ins Wohnzimmer.

      »Der Clown: Der, den der Hund beißt. Nummern und Bilder aus hundert Jahren«, las Henry und drehte das blaue Buch in seinen Händen.

      Es war kein Zufall, dass er es gekauft hatte. Als Kind hatte er ein ähnliches besessen, ein Bilderbuch über einen Clown. Jemand hatte es ihm zum sechsten Geburtstag geschenkt. Nicht die Eltern natürlich. Es war ein verbotenes Buch, eins aus dem Westen.

      Er zögerte. Immer noch hatte er Hemmungen, die Seiten aufzuschlagen. So, als könnte ein Buch sein gesamtes Leben verändern, alles auf den Kopf stellen. Ein solches Buch musste man sich aufsparen wie Münzen oder Murmeln oder wie … Lachsschinken oder … ach, was weiß ich, dachte er.

      Endlich fing er an zu blättern.

      Der Clown saß vor einem Bühnenvorhang, seine Augen verträumt an den Zelthimmel gerichtet. Er war von kleiner Statur, auf den Kopf hatte er sich die Glatze mit einem krausen Haarkranz gezwängt, die Backen waren bemalt, und er trug eine farbige, eckige Pappnase. In den Händen hielt er ein riesiges Instrument, in das er hingebungsvoll blies. Es war eine Art schmale, lange Tuba. Ein Susafon, vielleicht, dachte Henry. Während er blies, warf der Clown dem Fotografen einen verschmitzten Blick zu. Die Augen lächelten.

      Henry betrachtete das Foto lange, ließ das Buch sinken und sah in den Garten. Seltsam. Dieser Clown sah aus wie der aus dem Kinderbuch, der ihn damals bis in seine Träume verfolgt hatte.

      Er schloss die Augen. Da war das Bild eines Wagens. Ein alter, schäbiger Zirkuswagen, zwei kleine, zwei große Räder, der schwarze Schornstein, ein eher schmales Ofenrohr, das sich durch das Dach bohrte, vorne ein Sitz für den Kutscher. Mit diesem Gefährt kam niemand schnell voran, man zockelte die Landstraße entlang und hatte alles bei sich, was man besaß. Innen gab es Pritschen zum Schlafen, an der Schmalseite übereinandergebaut, einen Tisch, drei Stühle und einen Ofen. An den Fenstern standen kleine Blumentöpfe. Ein solcher Zigeunerwagen mit Blumentöpfchen an den Fenstern wirkte wie die Plastehäuschen seiner Modelleisenbahn. Gemalte Blumentöpfe auf Fensterplaste.

      Mit einem solchen wackligen Gefährt war der spanische Artist, um den es in dem Kinderbuch ging, mit seiner Familie durch die Lande gezogen. Bilder aus dem Buch kamen vor Henrys innerem Auge hoch, sie zeigten die Kindheit und vor allem die Arbeit der Artistenkinder.

      Auf einem sah man eine riesige rote Tulpe in geschlossenem Zustand, auf dem nächsten Bild hatte sie sich geöffnet. Der Artist jonglierte die Tulpe, in der sich sein zweijähriger Sohn befand. Gegen Ende der Nummer öffnete der Kleine die Tulpe von innen und winkte mit seinen Fähnchen.

      Die zweite Serie Bilder zeigte den kleinen Jungen mit bloßem Oberkörper und weiten Shorts, nur durch einen Gürtel in der Hüfte gehalten, genau wie damals die Gewichtheber im Zirkus. Der schmächtige Dreikäsehoch ließ

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