Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann

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Zeit wie Wasser - Christiane Höhmann

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Augen, und er hatte stumm auf seine Karte gedeutet. Dann hatte er ihnen zugeschaut. Die Schaukel auf dem Spielplatz quietschte bei jedem Auf_ und Abschwingen. Meistens saß Franz auf der Schaukel, wenn sie zu quietschen begann. Um halb eins, wenn die junge Frau vom Kiosk ihn hineinrief, verlor das Quietschen den Takt, Füße schleiften durch die Pfützen am Boden, kleine Hände rutschten die Seile hinunter.

      Nach vier Wochen musste sich Henry eine Monatskarte für die Bahn besorgen, das Geld wurde knapp. Niemand hatte sein Auto gesehen oder davon gehört.

      Im Kaffeegeschäft an der Promenade kaufte er sich um die Mittagszeit einen Kakao, beim Bäcker, der um eins schloss, ein Brötchen. Von Tag zu Tag wurde es heißer und bewegten sich die Kinder weiter vom Spielplatz weg in Richtung Seeufer. Dort gab es die schönsten Steine.

      Wilhelm hatte Mutters Haus leer geräumt. Er war in Henrys Abwesenheit hineingegangen und hatte sich den Kleiderschrank und das Esszimmer genommen. Auch Mutters Bett.

      Das Grün der Bäume war einem erschöpften Mattgold gewichen, als Henry zum letzten Mal auf der Bank saß.

      Ich muss dem See nur nahe genug kommen, dachte er. So nahe, dass dieser nicht mehr schweigen will.

      In der letzten Nacht hatte er wieder einen Traum gehabt. Aber diesmal hatte er nicht von Mutter geträumt, sondern von dem kleinen Jungen, der wie immer auf der Schaukel saß. Plötzlich wurde das Quietschen leiser, das leere Brett schwang auf und ab, der Junge stand auf dem Badesteg. Er legte ein Bein auf das Geländer, das den Steg sicherte. Mühelos zog er seinen Körper nach und hielt sich mit beiden Händen an der Reling fest. Er schaute nach unten und schwankte. Vor und zurück. War es ein Spiel? Endlich sprang Henry auf. Den Blick auf den Boden, lief er, lief am Ufer weiter und weiter. Er hielt nicht an. Er zog den Jungen nicht zurück.

      Das passiert mir nicht noch einmal, dachte er, als er aufwachte, noch einmal renne ich nicht weg. Diesen Jungen werde ich nicht verlieren.

      Sein Auto fand sich am toten Ende einer kleinen Stichstraße, nicht weit vom Ortseingang entfernt. Ein Anwohner hatte sich bei der Stadt über den Dauerparker beschwert, einen grünen Astra mit schwarzen Sitzen.

      Der Mitarbeiter des Ordnungsamts, dessen wichtigste Aufgabe es in diesem Sommer war, den Halter des Wagens zu ermitteln, fand Henry und Franz am Seeufer. Sie standen im Wasser und warfen Steinchen über die glitzernde Fläche.

      An dem Morgen, als sein Auto wieder in der Garage stand, ging Henry zum Friedhof, in der Hand Mutters kleine Messingkanne.

      Die bescheuerten Friedhöfe liegen immer im Schatten, dachte er am Eingangstor, und jedes Mal vergisst man es wieder, bis zur nächsten Beerdigung. Er fröstelte. »Nimm dich zusammen, Henry, du bist doch kein Weichei«, sagte er halblaut.

      Auf dem Weg hierher hatten sich seine Beine anders angefühlt als gewohnt, er musste die Füße nicht sorgsam über den Boden heben, Schritt für Schritt, sie tappelten über den Asphalt. Sie tappelten? Das Wort weckte Erinnerungen. Die Mutter hatte es gebraucht, wenn sie am Fenster saß und auf die Straße schaute. Die Kinder tappelten zum Spielplatz und zurück. Erwachsene tappeln nicht.

      Doch, heute schon, Henry beobachtete seine Füße scharf, während er weiterlief.

      Gestern, auf der Heimfahrt vom See, hatte er sich auf nichts so sehr gefreut wie auf das Erzählen. Die Stadt am See, die Schaukel, der Steg, Franz. Und schließlich diese Mischung aus Beschämung und Freude, sein fassungsloses Ein_ und Ausatmen, als er sein Auto wiedersah, die Tür aufschloss und sich hinter das Steuer setzte.

      Sonne und Wind, Spazierengehen durch den Ort im Regen, Wörter, Ausdrücke, Sätze, alles sammelte und ordnete sich in seinem Kopf, wurde zu einer Geschichte – bis ihm einfiel, dass Mutter nicht mehr da war. Verstorben. Ihr Bett verschwunden.

      Ich habe immer auf sie hin gelebt, dachte er. Alles gewann Bedeutung, wenn er es ihr erzählte. Dabei war die Zeit doch lange vorbei, in der ihr Urteil wichtiger gewesen war als seines. Doch, dachte er jetzt wieder, ich habe alles auf sie hin getan.

      Sein Lächeln erlosch. Er hatte Wilhelm gebeten, sich um die Pflege des Grabes zu kümmern, aber die drei Petunien, die der gesetzt hatte, waren über das Rechteck gewuchert und längst verwelkt. Die Begrenzungen des Grabes waren gar nicht mehr zu erkennen. Er würde sich selbst darum kümmern müssen, auch darum.

      Henry bückte sich und zog an einer der Pflanzen.

      Eine Geschichte fiel ihm ein, die er kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte. Oder stand sie in einem seiner neuen Bücher?

      Ingo aus Altenburg, dachte er plötzlich, bei ihm habe ich sie gelesen, in dem Buch mit den Erzählungen:

      Ein Mann steht am Grab seiner Mutter und stellt der Verstorbenen eine Frau vor. Er habe auch endlich eine Lebensgefährtin gefunden, erzählt er stolz. Und wie ähnlich sie der Mutter doch sei, dabei deutet er auf die Frau mit dem gelangweilten Blick neben sich.

      Als er mit ihr den Friedhof verlässt, drückt er ihr fünfzig Euro in die Hand und beide gehen in unterschiedliche Richtungen davon.

      Henry lachte. Beim zweiten Versuch ließ sich die Pflanze mit einem Ruck herausziehen.

      »Hella Schulze hat sich die Haare blond färben lassen«, sagte er, während er sich zur nächsten Blume herunterbeugte.

      »Und Wilhelm hat rübergemacht nach Meißen.« Rübergemacht, dachte Henry plötzlich, so nannte man das damals, wenn jemand in den Westen verschwand. Rübermachen geht jetzt auch rückwärts. Er lachte und bückte sich wieder auf das Grab. »In meiner alten Bude ist er jetzt. Zu Marie könnte er nicht mehr zurück, hat er gesagt. Vielleicht will sie sich scheiden lassen.«

      Wilhelms Scheidungen konnten Mutter nicht mehr aufregen. Daran war sie gewöhnt.

      Henry sah auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, neuerdings schwitzte er schon, wenn er sich nur ein bisschen bewegte. Dabei schien nicht einmal die Sonne. Der Wind ließ die Bäume am Weg rauschen. Er schaute nach oben. Wolken brauten sich über den Baumkronen zusammen, er musste zurück.

      Morgen würde er auf dem Weg zum Friedhof beim Gärtner vorbeifahren.

      Das Haus war still. Und leer. Ich kann froh sein, dass Wilhelm mir nicht auch noch mein Bett weggenommen hat, dachte Henry. Und den Küchentisch, an dem er sein Abendbrot einnahm, zwei Scheiben Brot, eine mit Honig, eine mit Käse.

      Aber das Brot rutschte nicht. Er hatte keinen Appetit. Henry legte die Hand auf den Magen. Dann nahm er sich eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank.

      Er pflanzte Astern auf das Grab und leuchtende Chrysanthemen, harkte, goss und erzählte der Mutter, was sie nicht wissen konnte, weil sie nicht mehr aus dem Wohnzimmerfenster schaute.

      Es war viel. Ständig passierte etwas, jemand lief die Straße entlang, den er nicht kannte, Autos fuhren langsam, weil man im Wohngebiet neuerdings dreißig fahren musste, die Kinder gingen seltener in Richtung Park, seitdem sie nachmittags Schule hatten.

      Einmal flogen Tauben auf von der Straße, glänzend, verheißungsvoll wie junge Schwalben, Silbervögel in der Sonne, vor der Kirche.

      Tims Vater hatte Tauben, dachte Henry. Wieso fiel der ihm jetzt ein, in diesem Moment, an Mutters Fenster?

      Tim, sein Freund von vor über vierzig Jahren, damals in Coswig. Er lehnte sich an

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