Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann
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Im nächsten Bild hob er eines der Gewichte vorsichtig auf, sein Bizeps schwoll, im dritten Bild hielt er die Hantel fast bis in Augenhöhe. Im vierten dann konnte man sehen, dass das Gewicht aus Pappe bestand. Der kleine Artist hielt es locker mit einem Finger und ließ es dann auf den Boden plumpsen. Die Zuschauer, hinter ihm im Bild, bogen sich vor Lachen.
Damals hatte Henry vorgehabt, es ihm gleichzutun, eine Hantel aus Pappe herzustellen und alle mit seinen Künsten als Gewichtheber zu beeindrucken. Er lächelte, als er daran dachte.
Als Clown wird man geboren, dachte Henry, und wenn man einer ist, hat man auch die Verpflichtung, einer zu sein. Er ließ das Buch sinken und schaute aus dem Fenster.
Der Clown aus seinem Bilderbuch war eigentlich ein Artist, ein fantastischer Turner gewesen. Aber nachdem er einmal einen komischen Auftritt hatte, wollte man ihn nie mehr ausschließlich als Artisten sehen. Immer musste er der Clown sein. »Aber erst das Publikum macht dich zum Clown«, sagte Henry halblaut und blätterte zur Einführung zurück.
»Der Clown ist klug und lebhaft, anmutig und schamlos, vielseitig und einfallsreich, mitleidig und schadenfroh. Er beobachtet scharf und reagiert unerwartet. Er zeigt spontan, wie ihm zumute ist. Ein Clown wird wieder das Kind, das er mal war. Er kehrt zurück zu den extremen Reaktionen der Kinder, Lachen und Weinen, Freudenschreie und Schmerzenslaute.
Wie ein Kind scheitert der Clown. Während alle bemüht sind, das Scheitern zu verbergen, obwohl es jeden Tag jedem zustößt, ob im Kleinen oder im Großen, scheitert der Clown bei allem, was er tut. Er führt dieses Scheitern vor. Die Zuschauer lachen über ihn und über sich selbst. Einer, der stellvertretend und schöner scheitert als sie, das ist der Clown.
Ein Clown erzählt eine Geschichte. Er ist ein Dichter, der seinen Blick auf die Welt vorführt. Niemals lernt der Clown aus dem, was er auf der Bühne erlebt. Immer wird er auf seiner Überzeugung beharren und ohne Selbstkritik weiterkämpfen. Dabei wird er kleine Siege erringen und am Ende doch verlieren. Der Clown öffnet sich, zeigt seinen Schmerz, drückt ihn mit dem Gesicht und dem Körper aus. Er behält die Qual, das Leiden nicht für sich. Das Publikum, das seinen eigenen Schmerz verbirgt, erlebt den Schmerz des Clowns. Manchmal lacht es und stutzt dann, weil es über das Leid und vielleicht über seinen eigenen Tod gelacht hat.
Aus Tragik wird Komik. Als Spötter überschreitet der Clown die Grenzen der Moral, die Tabus und stellt sich den menschlichen Schwächen.
Letzten Endes ist der Clown eine Symbolfigur der Gesellschaft: Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.«
Ja, dachte Henry. Genau so ist es. Er ist der Letzte, der, den der Hund beißt.
Er blieb nachdenklich in seinem Sessel sitzen. Als Kind hatte ihn am meisten die Vorstellung beschäftigt, herumzuziehen und niemals irgendwo zu bleiben. Alles, was man besaß, dabei zu haben und jede Woche an einem anderen Ort zu Hause zu sein, die Welt ständig neu, aus einem anderen Blickwinkel zu erleben. Für diesen Traum habe ich in dem richtigen Staat gelebt, dachte er jetzt, ausgerechnet hinter einer Zonengrenze. Aber zurückgehalten haben die mich nicht. Er drehte das Buch in den Händen.
Es hatte ihn an etwas erinnert, das erst ein paar Jahre zurücklag. Henry fing an, die Schubladen von Mutters Wohnzimmerschrank aufzuziehen.
5
Als er bei Hella und Bernd klingelte, hielt er ein Foto in der Hand.
Eine halbe Stunde hatte Henry auf das Bild gestarrt, bevor er den Entschluss gefasst hatte, es Hella zu zeigen.
Es ist wichtig, dass jemand es sieht, dachte er. Dieses Bild braucht einen Zeugen und zwar sofort. Sie lächelte, als sie ihn vor der Tür stehen sah.
»Komm doch rein«, sie ging ihm voraus durch den kühlen, weiß gefliesten Flur, die Zipfel ihrer Bluse flatterten um ihre Beine.
Ihr Wohnzimmer war so hell möbliert, dass es blendete, wenn man durch die Glastür trat. Mutters Wohnzimmer schien einen ganz anderen Zuschnitt zu haben, obwohl es an der gleichen Stelle in der identischen Hälfte des Doppelhauses lag. Das liegt an den dunklen Ecken bei uns, dachte Henry. Unser Zimmer ist so unübersichtlich, dass sich nie eine Gesamtsicht des Raumes bietet. Was natürlich auch seine Vorteile hat. Aber aufgeräumt ist es immer, dachte er, dafür sorge ich schon.
Er drückte Hella das Foto in die Hand, ging um den Hund herum und setzte sich vorsichtig in das leuchtend blaue Samtsofa.
»Was hast du denn gemacht?«, sie drehte sich um und musterte ihn. »Hast du etwa eine neue Frisur?«, sie trat hinter das Sofa und strich ihm leicht über das Haar. Er lächelte.
Hella achtete immer genau darauf, wie Bernd sich anzog, und dass er regelmäßig zum Friseur ging. Jedenfalls hatte Mutter das immer behauptet.
»Hella achtet auf Äußerlichkeiten«, hatte Mutter immer gesagt.
»Ein bisschen Gel«, meinte er jetzt, »weiter nichts.« Sich Gel in das Haar zu schmieren, war etwas, das ihm früher nicht in den Sinn gekommen wäre. Das Mädchen im Starbucks hatte es ihm vorgeschlagen. Es war aufregend.
»Gestylt, hm?«, Hella grinste ihn an und streichelte sein Haar gegen den Strich. »Färbst du es auch?«, fragte sie dann. Henry schüttelte den Kopf und schaute sie mit gespieltem Entsetzen an. Er lehnte sich ins Sofa zurück.
Sein Blick fiel auf einen Stapel Illustrierte, als er sich die oberste vom Stapel nahm, fing Daisy an zu bellen.
»Ruhig, du blöder Hund«, zischte Henry.
Aber Hella beachtete den Hund genauso wenig wie Henry. Sie schaute auf das Foto in ihrer Hand, hielt es ein Stück von sich weg und lachte. Das Bild zeigte Henry mit einer roten Nase, einer Clownsnase.
»Es ist komisch«, sagte Hella, »es ist so komisch.«
Sie warf sich auf einen Sessel, hielt sich das Foto an den Bauch und lachte.
Auch ein schönes Bild, dachte Henry, sein Blick wanderte nur widerstrebend von dem Foto auf Hellas Bauch zu ihrem Gesicht. Eine schöne Frau, dachte er plötzlich. Das Lächeln verändert ihr ganzes Gesicht. Es macht es so … so niedlich vielleicht.
Er stand auf und trat vor den Spiegel im Flur. Mit Daumen und Zeigefinger zupfte er an seinen Tränensäcken herum, zog die Mundwinkel hoch und zwinkerte sich zu. Er zog sich an den Ohren und starrte in seine Augen im Spiegel. Ein Clown lacht nicht über sich selbst, aber er zeigt seine Lächerlichkeit.
»Wir haben einen Sketch aufgeführt«, er ging zu Hellas Sessel zurück und blieb dahinter stehen, »mein Bruder Wilhelm und ich«, aus seiner Hosentasche zog er ein weiteres Bild, auf dem Wilhelm mit bunten Hosenträgern über dem Bauch zu sehen war. »Seine Tochter hatte Geburtstag«, Hella warf einen flüchtigen Blick auf das zerknitterte Foto von Wilhelm und betrachtete dann wieder das Bild in ihrer Hand. Sie sah sich zu Henry um und schaute ihn an, als habe sie ihn noch nie gesehen.
Wenn Henry später darüber nachdachte, wann es angefangen hatte, die Sache zwischen Hella und ihm, dann fiel ihm als Erstes dieser prüfende Blick ein. »Gehst du jetzt mal mit Daisy spazieren?«, fragte sie und er nickte. Mit dieser Frage hatte er rechnen müssen. Zum Shopping in der Stadt konnte sie Daisy nicht so gut mitnehmen. Und Hella ging oft