Zeit wie Wasser. Christiane Höhmann

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Zeit wie Wasser - Christiane Höhmann

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Brieftauben züchtet, kann nicht weg von zu Hause. Nicht dass Henrys Familie in den Urlaub gefahren wäre, aber sie hatten doch immer das Gefühl gehabt, dass sie fahren konnten, wenn sie es nur wollten. Und er war ja auch jedes Jahr im Ferienlager gewesen und später dann in Ungarn.

      »Schulzes haben einen Hund«, erzählte er ein paar Tage, nachdem er mit dem Pflanzen fertig war, »einen Golden Retriever, er heißt Daisy, nein, sie heißt Daisy«, obwohl er sich für Hunde nicht interessierte, hatte er sich von Hella Schulze Rasse und Namen nennen lassen. Die würde Mutter wissen wollen.

      »Erinnerst du dich noch daran, wie du die Allergie hattest?«, fragte er übergangslos. »Mich juckt es jetzt auch ständig. Das wird doch nicht vom Hund sein? Nein, ich glaub das auch nicht, ich hab ihn doch gar nicht angefasst.« Und der Magen, dachte er, den spüre ich ständig.

      Von den leeren Stellen im Haus, wo Mutters Möbel gestanden hatten, sagte er nichts. Er würde die Lücken auch nicht füllen. Niemand würde mehr etwas im Haus der Mutter anrühren, solange er da war, das zu verhindern.

      Wenn er auf dem Friedhof fertig war, ging er in die Stadt. Immer hatte er darauf geachtet, dass er seine tägliche Routine genau einhielt, und seitdem er nicht mehr arbeiten ging, war dies wichtiger als jemals zuvor. Am Morgen fuhr er mit dem Fahrrad zum Einkaufen. Zwei Mal am Tag ging er Kaffee trinken. Nach dem Friedhof zu Karstadt, am Nachmittag in einen der modernen kleinen Läden, die nur wenige Sitzplätze im Thekenbereich hatten.

      »Den 1,50er«, sagte er, wenn er das Starbucks betrat.

      Den Kaffee für eins fünfzig gab es schon lange nicht mehr, er war offensichtlich ein Lockangebot bei der Eröffnung des Cafés gewesen. Aber das Mädchen hinter dem Tresen lächelte und hielt schon eine Tasse an die Maschine, wenn sie ihn vor der Tür stehen sah.

      Zwei Mal am Tag Kaffee trinken zu gehen, hatte er Herbert auch empfohlen, als der Rentner wurde und dann auch noch seine Frau auszog. Genau die Hälfte des Hausstandes nahm sie mit, ebenso wie sie vorher genau die Hälfte bewohnt hatte, erzählte Herbert, immer genau die Hälfte der notwendigen Lebensmittel eingekauft und nach Möglichkeit auch immer nur ihre Hälfte verbraucht hatte.

      Statt mit Henry Kaffee trinken zu gehen, fing Herbert nach dem Auszug seiner Frau an, zwei Mal am Tag die Eckkneipe aufzusuchen. Das erste Mal nach dem Frühstück – sechs Pils und ein Korn, 10 Euro, das zweite Mal vor dem Abendbrot – sechs Pils und ein Korn. Vorher hatte Herbert sein Bier zu Hause getrunken und auch erst abends damit angefangen.

      Wie konnte man nur dieses Gesöff so hemmungslos in sich hineinschütten?, dachte Henry. Hin und wieder einen Wodka auf Eis, der machte das Leben schöner. Aber niemals vor fünf Uhr.

      Eines Abends, nach dem zweiten Wodka, sagte Mutter zu Henry, dass er nicht gut rieche. »Wodka riecht doch gar nicht«, sagte er, aber er kaufte keine neue Flasche mehr.

      Nach dem Starbucks ging er ins Internetcafé. Das letzte seiner Art in dieser Stadt befand sich in der Bahnhofstraße. Anscheinend war er einer der wenigen Einwohner dieser Stadt, die noch keinen Internetanschluss hatten und trotzdem online gingen. Murats Landsmänner benutzten das Café auch zum Telefonieren.

      Murat winkte ihm am Eingang zu, ohne seine Zigarette hinzulegen, er schaltete wie immer die Nummer 1 frei.

      Henry ging durch den dämmrigen Laden und setzte sich auf den Drehschemel vor dem Computer.

      Links neben ihm standen Menschen verschiedener Nationalitäten in kleinen Telefonabteilen, rechts saßen Einzelne mit gesenkten Köpfen vor den Bildschirmen. Hier hatte noch niemand etwas vom Rauchverbot gehört, überall qualmte es.

      »Billig telefonieren, rund um die Welt«, hatte Murat mit ungelenker Schrift quer über das Schaufenster geschrieben. Neben Henry mischten sich Stimmen, leises Murmeln, das immer wieder übertönt wurde durch heftige Laute, die jemand in seinen Hörer rief, in einer Sprache, die Henry nicht kannte.

      Wenn er in sein Mailprogramm gegangen war, oft nur, um festzustellen, dass er nur Werbepost erhalten hatte, genehmigte er sich den Besuch auf ein paar schönen Seiten, darunter nur selten solche, die er sofort schließen musste, wenn Murat hinter ihn trat, »mein Freund« sagte und ihm auf den Rücken klopfte.

      Am Ende ging er auf die Seite Google Earth. Mit wenigen Mausklicks bewegte er sich in seiner Heimat die Straßen entlang, die er als Junge gegangen war, über dem Elternhaus hielt er für eine längere Zeit an, dann über dem Nachbarhaus. Manchmal fuhr er auch mit dem Zeiger der Maus nach Meißen oder Dresden, oft blieb er einfach an einer der Brücken an der Elbe stehen. Eine Stadt muss einen Fluss, ein Ufer, eine Uferpromenade haben. Erst der Fluss gibt der Stadt ihr Gesicht.

      Wenn er von diesen Reisen zurückkehrte, wusste er sekundenlang nicht mehr, wo er war und was er in dem verrauchten, überfüllten Raum tat, wo von kleinen Tischen hinter grauen Maschinen Menschen mit dunklen Augen den Blick vom Bildschirm hoben und ihn ansahen, wenn er plötzlich aufstand.

      Die Zeitung las er nach dem Frühstück von Anfang bis Ende durch, selbst, wenn ihn die Nachrichten und Berichte anödeten. Es reichte, die Artikelüberschriften von einem Tag zu lesen, um im Sessel zur Seite zu kippen, fand er, während er blätterte und dabei vor sich hin murmelte.

       Startschuss für die Lesehasen

       Licht von allen Seiten

       Ein Tag für alle Kinder

       So geht Sudoku

       Einkaufen wie an der Wolga

       Altersversorgung kommt teuer

       CDU-Stil gescheitert

       Mit Liste und Dose von Haus zu Haus

       Tresorknacker unterwegs

       Kinder erleben den Wald

       Upps, komm Zähne putzen

       Wir trauern um …

      Hier stutzte er. Ein Name sprang ihm ins Gesicht. Fett gedruckte Zeilen wurden löchrig und verschwammen vor seinen Augen.

      Günter Fiedler, stand da. 1949–2008. Günter Fiedler? Ja, das kam hin. Günter war der Nachbar von gegenüber. Früher war er oft stehen geblieben, bevor er in sein Auto stieg, um zum Dienst zu fahren. Er hatte sich an den Gartenzaun gelehnt, herübergegrüßt und manchmal mit der Mutter am Fenster ein Gespräch begonnen. Abends hatte Henry auch mal neben ihm am Tresen im Willi’s gestanden. Und war das nicht erst zwei Wochen her, dass Henry Günter im Supermarkt gesehen hatte?

      Er dachte an den Blick, den der ihm im Eingangsbereich des Geschäfts zugeworfen hatte, als er ihn erkannte. Ein merkwürdiger Blick, unter dem sich Henry über die Haare strich. Er war doch gekämmt, das Hemd steckte in der Hose, die Hose hatte keine Flecken? Früher hatten ihm andere Blicke zugeworfen, eklige, geile Typen, die ihm auch schon mal in der Straßenbahn über den Rücken strichen und zwischen die Beine fassten. Es hatte eine Weile gedauert, bis ihm dämmerte, dass sie ihn für »andersherum« hielten. Ekelhaft, dachte Henry. Seitdem konnte er es nicht mehr gut aushalten, wenn er angestarrt wurde.

       »Nach langer Krankheit.«

      Günters Blässe war also kein

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