Von Lüneburg bis Langensalza im Krieg 1866. Friedrich Freudenthal
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Meine Freundin setzte sich auf das niedrige bankartige „Stägel“ und begann allerliebst zu plaudern von allerlei nichtssagenden Dingen, während ich, an den Zaun gelehnt, ihr zuhörte, oder auch ihre meist scherzhaften Reden nach besten Kräften zu erwidern versuchte. Anna vergaß bei alledem nicht, an dem baumwollenen Strickstrumpf, den sie in den Händen hielt, eifrig weiter zu stricken, was mir gar so recht nicht gefiel, denn wenn sie ab und zu lächelnd zu mir auf sah und ich gerade im Begriff stand, mich mit einem schwärmerischen Blick in die „unergründlich süße Nacht“ ihrer lieben Augen zu vertiefen, machte mir zu oft der böse Strickstrumpf einen Strich durch die Rechnung. Irgend eine entschlüpfte Masche oder ein sonstiges Hinderniß erforderte plötzlich Anna’s Aufmerksamkeit, ihr Blick wich dem meinen aus und wandte sich dem Werkzeuge zu, das sie in der Hand hielt, und statt in die schönen blauen Augen meiner Freundin zu schauen, mußte ich dann ohne daß ich es wollte auf die langweilige Fläche des im Werden begriffenen Strumpfes blicken. Dies verursachte mir jedesmal Mißbehagen und ich führe es auf jenen Abend zurück, daß ich mit der Zeit eine große Abneigung gegen „blaue Strümpfe“ jeder Art faßte.
Mittlerweile war die Dämmerung weiter fortgeschritten und ein Stündchen mochte uns Beiden in unschuldigem Geplauder vergangen sein. Anna schickte sich an, das Gespräch abzubrechen. Sie mußte sich, wie sie sagte, wieder ins Haus begeben, sonst würde sie von ihrer Mutter ausgescholten. Während sie das Strickzeug kunstgerecht zusammenrollte und dann Knäuel und Strumpf mit der mit der maschenfreien Nadel durchbohrte, richtete sie in scheinbar unbefangenem und gleichgültigem Tone die Frage an mich, ob ich in Lüneburg wohl Zeit behalten würde, Claus Eggers – den Sohn eines benachbarten Besitzers –, der bei der 8. Compagnie des 5. Infanterie-Regiments diene, aufzusuchen. Als ich meiner Freundin entgegnete, daß sich dies wohl ermöglichen lassen würde, bat sie mich, an Claus einen Gruß von ihr zu bestellen. Ich versprach, ihren Auftrag gerne ausführen zu wollen, denn Claus Eggers war auch mir befreundet, obschon er 3–4 Jahre älter war als ich.
Nach Erledigung dieses Zwischenfalles reichte Anna mir die Hand und wir nahmen Abschied von einander. Ich bat meine Freundin, mir ein freundliches Andenken zu bewahren; sie versprach mir dies und wünschte mir alles Gute auf den Weg. Mit den althergebrachten treuherzigen Worten: „Bliew gesund un munter, Fritz! Lat di’t man recht good gahn!“ ging sie von mir. Von Weitem rief sie mir noch eine „Gute Nacht“ zu, dann verschwand sie in der Thür ihres väterlichen Hauses und ich wandte mich der Straße zu und begab mich auf den Heimweg.
Die Nacht war inzwischen völlig hereingebrochen. Eine milde, warme Frühlingsnacht war es die sich auf das Dorf herniedersenkte und Wiesen und Felder, sowie den Wald und die Heide in der Ferne in schwarze, undurchsichtige Schatten einhüllte. Die Bewohner der Bauernhäuser und Kathen, an denen mein Weg vorüber führte, ruhten meistens schon von der schweren Arbeit des Tages, nur in einzelnen Häusern noch stand die der Straße zugekehrte große Thür, welche die Einfahrt zur Diele bildet, offen und man sah die Bewohner bei dem auf dem niedrigen Herde hell brennenden Feuer beschäftigt. Vielleicht mengten die Frauen Teig an – „Süern“ nennt man dies in Plattdeutsch –, um am andern Tage Brod zu backen, oder eine andere unaufschiebbare Arbeit hielt die Insassen noch wach.
Friedliche Stille herrschte ringsum, kein Lüftchen regte sich in den noch unbelaubten Zweigen der hochstämmigen Eichen und Buchen auf den Hofplätzen; aus der Ferne erscholl allerdings der Gesang der Burschen und Mädchen, die sich zu frohem Zeitvertreib im Dorfe auf dem Platze bei der Linde versammelt hatten, und in den Pausen machte sich das Gequack der Frösche bemerkbar, welche in den Sümpfen einer in der Nähe des Dorfes gelegenen Niederung hausten. Diese braven unverwüstlichen Frühlingsbassisten ließen ihre Stimmen aber nur erst noch vereinzelt und unter bescheidenem Kraftaufwand ertönen. Es war das Piano des Erprobens und richtigen Abwägens der Stimmen; jeder feucht-versumpfte Sangesbruder übte noch für sich allein. Von einem kräftigen anhaltenden Chorgesange konnte noch nicht die Rede sein, dazu war die Saison noch nicht weit genug vorgeschritten.
Vom Dorfe herüber erklang es indessen:
„Morgen will mein Lieb abreisen,
Abschied nehmen mit Gewalt...
– – –
Laub und Gras das mag verwelken,
Aber treue Liebe nicht;
Kommst Du mir gleich aus den Augen,
Doch aus meinem Herzen nicht.“
Ohne über den Inhalt des alten Volksliedes weiter nachzudenken, stimmte mich die schwermüthig-langgezogene Weise ernst und wehmüthig und unter dem Eindruck dieser Stimmung erreichte ich die Behausung meiner Eltern.
3.
Auf der Wanderung nach der Garnison.
Es war im Familienrathe beschlossen worden, daß mein Vater mir bis Lüneburg das Geleite geben sollte.
Also begaben wir Beide uns am folgenden Tage früh Morgens auf die Reise. Bis Harburg, welches etwa 4 bis 5 Meilen entfernt war, gedachten wir zu Fuß zu wandern; von dort wollten wir zur weiteren Reise die Bahn benutzen.
Die Mehrzahl der Eisenbahnlinien, welche jetzt die Heide durchschneiden, war damals noch nicht vorhanden; die Strecke Bremen-Hamburg war allerdings vermessen und von der Regierung genehmigt, aber noch nicht im Bau begriffen. Auf den Landstraßen gab es allerdings Post- und Omnibusfuhrwerke, aber die Fahrzeiten waren meistens auf die Nacht verlegt, auch war das Reisen mit der Post ziemlich kostspielig. Man mußte sich also, besaß man kein eigenes Fuhrwerk, auf Schusters Rappen verlassen. Fußwanderungen von 10 bis 12 Stunden waren nichts Ungewöhnliches; ich selber bin solche und noch weitere Strecken oft in einem Tage marschirt. Die jungen Bursche im Dorfe, welche in Hannover bei den Gardetruppen dienten, legten den 16stündigen Weg bis dahin regelmäßig in einer Tour zu Fuß zurück. Das waren gute Vorübungen, um marschfähige Soldaten zu erzielen, mit denen es möglich war Außerordentliches zu leisten. So legten, wie nebenbei bemerkt werden mag, im Holsteinischen Feldzuge am 29. Mai 1848 die 5. und 7. Compagnie vom Lüneburger Regiment (deren Mannschaften vorwiegend der Heide entstammten), um an dem Gefecht bei der Nübeler Mühle theilnehmen zu können, in 38 Stunden ein Strecke von 26 Stunden Entfernung zurück, ohne daß sie einen einzigen Mann als marode hätten zurücklassen müssen. Eine erstaunliche Leistung, wenn man bedenkt, daß dieser Marsch bei große Hitze ausgeführt wurde und daß zu damaliger Zeit die Infanterie viel schwerer bepackt war als heutigen Tages.
Es wäre zu wünschen, wenn in unserem Zeitalter, wo die große Mehrzahl der Handwerksgesellen (von den wohlhabenden Classen gar nicht zu reden) mit der Bahn fährt und ein Marsch von wenigen Meilen als eine große Kraftleistung gilt, Gottfried Seumes Wahlspruch: „Vieles ginge besser, wenn man mehr ginge“, wieder beherzigt würde. Man sollte sich darauf besinnen, daß die Natur uns die Füße nicht gab, um sie in modisch enge Stiefelchen einzuzwängen, daß der Mensch nicht lediglich geschaffen ist, um sich von der Locomotive oder von dienstbereiten Vierfüßlern von einem Ort zum anderen schleppen zu lassen. Körper, Geist und Gemüth würden gewinnen und die Menschen sich näher kommen, wenn man wieder mehr auf eigenen Füßen sich einher bewegte, sich die Welt mehr auf freier Wanderung über Berg und Thal, durch Wald und Heide