Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Lothar Becker

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Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker

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muss ich tun?«, jubelte Herbert.

      Genosse Frank öffnete die oberen Knöpfe seiner Lederjacke und tastete in seiner Innentasche nach einem zusammengefalteten Formular. Als er es gefunden hatte, zog er es behutsam mit Daumen und Zeigefinger heraus. Er bückte sich, legte es auf den Boden und strich ein paar Mal über das Papier, um es zu glätten.

      »Da!« Er zeigte auf eine noch unbeschriebene Zeile. »Name, Adresse und Unterschrift, und das war’s auch schon.«

      »Mehr nicht?«, fragte Herbert.

      »Nicht, dass ich wüsste«, sagte Genosse Frank.

      »Stift?«, fragte Herbert.

      »Ach ja, richtig«, sagte Genosse Frank, griff noch einmal in die Innentasche seiner Lederjacke, holte einen Füllfederhalter hervor und reichte ihn Herbert. Herbert schraubte den Verschluss ab und schrieb. Name, Adresse, Unterschrift.

      »Gratuliere«, sagte Genosse Frank und schüttelte enthusiastisch Herberts Hand. Dann drehte er sich zu Großvater herüber und fragte: »Und was ist mit dir?«

      Großvater war etwas unschlüssig. »Ich weiß nicht«, sagte er.

      »Liegt dir etwa nichts daran, die Welt gerechter zu machen?«, fragte Genosse Frank.

      »Doch, schon, natürlich. Was denn sonst?«, antwortete Großvater. »Das ist doch gar keine Frage!«

      »Dann musst du dich der Partei anschließen«, sagte Genosse Frank. »Einer allein kann die Welt nicht verändern. Nur gemeinsam sind wir stark!«

      Großvater gefiel es nicht, sich so schnell entscheiden zu müssen. Deswegen blickte er an Genosse Frank vorbei in den blauen Sommerhimmel, presste die Lippen aufeinander und sagte nichts. Genosse Frank ging leicht in die Hocke, beugte sich nach vorn und strich sich mit den Handflächen über die Seiten seiner Oberschenkel. Auf und ab, auf und ab.

      »Ja oder nein?«, drängte er. »Ich habe schließlich nicht ewig Zeit!«

      »Na los! Nun komm schon!«, rief Herbert.

      »Du nervst!«, sagte Großvater.

      »Na, was ist nun?«, fragte Genosse Frank.

      Großvater zeigte keine Reaktion. Am Himmel, dort, wo er noch immer hinsah, tauchte eine Wolke auf, eine blasse, zigarrenförmige, sich extrem langsam bewegende Wolke. Das machte die Sache nicht leichter.

      »Jetzt lass Genosse Frank doch nicht so lange warten! Das ist unhöflich, hörst du?«, gab Herbert zu bedenken.

      Da blickte Großvater Herbert unendlich vorwurfsvoll an, zog das Papier zu sich herüber, nahm seinem Freund den Füllfederhalter aus der Hand, seufzte und unterschrieb. Widerwillig und nur, weil er nicht unhöflich sein wollte. So war er eben. Großvater trat aus Höflichkeit in die Kommunistische Partei ein. Das ist die Wahrheit. Alles, was später über seine politischen Anschauungen und Aktionen gesagt wurde, hat damit seinen Anfang genommen. Großvater war aus Höflichkeit Parteimitglied geworden, und Herbert, weil er ein Fahrrad wollte. Aber daran ist nichts ungewöhnlich oder verwerflich. Die meisten Revolutionen, mögen sie mit noch so komplizierten politischen Theorien unterfüttert sein, beruhen auf ganz einfachen menschlichen Eigenschaften wie Habgier und Naivität. Das macht sie so attraktiv für viele. Herbert betrachtete sich übrigens, bereits kurz nachdem er seinen Parteieintritt besiegelt hatte, als Fahrradbesitzer. Und als er wenig später den Hügel zur Straße hinunterging, bewegte er seine Beine auf dieselbe Weise wie Genosse Frank, wenn er in die Pedale trat.

      Großvater, in dessen Kopf es, wie wir wissen, unentwegt arbeitete, begann darüber nachzudenken, was nun alles anders werden würde, jetzt, wo sie Genossen waren. Mit seiner Unterschrift hatte er einen Strich unter sein bisheriges Leben gemacht. Keine Frage. Kaum etwas würde so bleiben können wie bisher. Mit seiner Unterschrift hatte er sich verpflichtet, die Welt zu verändern. Das musste er jetzt irgendwie hinkriegen.

      Was bin ich nur für ein Idiot, dachte Großvater. Hätte ich doch bloß nicht unterschrieben!

      Dafür war es jetzt allerdings zu spät und die zigarrenförmige Wolke über ihm bedeckte mittlerweile die Hälfte des Himmels.

      Bevor sich Genosse Frank wieder in den Sattel geschwungen hatte und mit dem Ruf »Das nächste Mal komme ich mit einem Motorrad!« um die nächstbeste Kurve geschossen war, hatte er Großvater und Herbert zwei Parteiausweise und ein Traktat überreicht. Dieses Traktat stellte ein kurzes, auf wenigen Seiten zusammengefasstes, leicht verständliches Kompendium der wichtigsten Regeln des Klassenkampfes dar. Eigentlich wusste man schon nach der Lektüre der ersten Seite alles: Die da oben mussten weg, und die da unten mussten dorthin, wo jetzt die da oben waren. Kampf den Bonzen. Mit allen Mitteln. Vorbereitung und Durchführung der Weltrevolution.

      Weltrevolution?, fragten sich Großvater und Herbert. Was denn für eine Weltrevolution? Der Begriff haute sie beinahe um. Als Großvater und Herbert Welt­revolution lasen, hoben sie ihre Köpfe und sahen sich an. Der Begriff faszinierte sie derartig, dass sie ihn mehrmals Silbe für Silbe wiederholten. Welt–re–vo–lu–ti–on. Was für ein Wort! Als Großvater und Herbert zum ersten Mal mit der Weltrevolution konfrontiert wurden, waren sie völlig geplättet. Weltrevolution klang einfach unglaublich. Weltrevolution erzeugte sofort jede Menge Romantik. Man sagte Weltrevolution und schon lief ein ganzer Film voller Abenteuer und leidenschaftlicher Affären vor einem ab. Manchmal kam noch ein bisschen Dschungel dazu. Und ein paar wilde Tiere, Löwen, Schlangen und so. Die Weltrevolution beeindruckte Großvater und Herbert mehr als die Diktatur des Proletariats oder der Historische Materialismus. Die Weltrevolution und das Motorrad, von dem Genosse Frank gesprochen hatte. Beides hörte sich nach etwas Monumentalem an.

      Die Begeisterung war ihnen noch anzusehen, als sie von Anita angesprochen wurden, von genau der Anita, die Egon und Anton geküsst hatte und Herrn Gerstner nicht und die sonst nie mit Großvater und Herbert sprach, sie nicht einmal bemerkte, um bei der Wahrheit zu bleiben. Anita war ganz zufällig vorbeigekommen. Aber »ganz zufällig« bedeutete natürlich: aus purer Neugier.

      »Wer ist denn dieser gutaussehende Sportler gewesen?«, fragte sie und drehte eine Strähne ihres Haares um ihren Zeigefinger.

      »Er heißt Frank und ist KP-Mitglied. Wie wir!«, gab Herbert an.

      Anita nahm den Finger aus ihrem Haar, zog ihre Augenbrauen hoch und schaute Herbert direkt ins Gesicht. »Dass ihr in der KP seid, ist aber auch die einzige Gemeinsamkeit zwischen euch und ihm«, sagte sie und drehte ihren Kopf abrupt zur Seite. »Kommt der auch mal wieder?«

      »Klar«, sagte Herbert.

      »Schon bald?«, fragte Anita.

      »Bestimmt«, sagte Großvater.

      »Und wann genau?«, fragte Anita.

      »Hat er nicht gesagt«, sagte Herbert.

      Der Wind ließ ein trockenes Blatt über die Straße tanzen. Es wirbelte quer über die Fahrbahn, drehte sich um sich selbst, schoss ein Stück nach vorn und wurde vom nächsten Luftzug zurückgetragen. Großvater und Herbert kamen aus dem Staunen nicht heraus. Seit sie in der Kommunistischen Partei waren, lief es einfach großartig für sie. Nicht allein, dass die Welt von nun an gerechter werden und ihnen bald ein Fahrrad gehören würde – auf einmal sprach sogar Anita mit ihnen.

      »In die Partei einzutreten war die beste Entscheidung

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