Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Lothar Becker

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Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker

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gibt’s nichts zuzugeben!«, sagte Großvater.

      »Du bist ein Schisser«, sagte Herbert, »was denn sonst?«

      »Ich weiß überhaupt nicht, was du auf einmal hast. Bist du auf Streit aus, oder was?«, fragte Großvater.

      Herbert antwortete ihm nicht. Er blickte weiter in Richtung Fenster und hörte einfach auf, mit Großvater zu sprechen.

      »He, Herbert, ich habe dich was gefragt«, sagte Großvater.

      Herbert reagierte nicht. Zehn Minuten oder noch länger sagte er kein einziges Wort.

      »Ich muss nach den Hühnern sehen«, murmelte er schließlich und stand auf.

      Großvater legte beide Hände auf den Tisch und sah zuerst auf seine Hände und dann zu Herbert hinüber, wie er seine Jacke vom Haken nahm und sie sich anzog und schließlich ohne ein Wort hinausging, die Tür hinter sich zuschlug und hinunter ins Dorf lief, die kaum geräumte Straße zwischen den schneebedeckten Häusern entlang, aus deren Schornsteinen grauer Rauch stieg, grauer, stinkender Rauch, der schon wenige Meter über den Dächern im Frost erstarrte.

      Natürlich bauten sie die Bombe. Großvater ertrug es nicht, andere Menschen vor den Kopf zu stoßen, und schon gar nicht Herbert. Wie gesagt, beide waren Freunde. Großvater baute die Bombe aus Zuneigung zu Herbert. Außerdem hatte er unterschrieben, die Welt besser zu machen, gerechter. Auch dafür musste er etwas tun. Und so kam es zu den Experimenten mit Düngemittel, Backpulver und Benzin, in deren Folge an einem Winterabend der Schuppen abbrannte, und ein Schimmer der Weltrevolution Großvaters und Herberts Dorf erleuchtete.

      Dann war es wieder Frühling geworden, bereits im März war der ganze Schnee getaut, und der Boden war zerzaust und aufgewühlt, und in den Gräben stand das Regenwasser, und durch das verwelkte Gras des letzten Jahres fuhr knisternd der Wind. An einem sonnigen Morgen Anfang April, als die Tage immer länger und wärmer geworden waren, zog sich Großvater seinen schwarzen Anzug an, band sich die gestreifte Krawatte um, verpackte die Bombe in einen stabilen Koffer und sprang damit in den Dorfbach. Der Dorfbach war das flachste Gewässer im Umkreis von mehreren Kilometern, aber weil Großvater damals noch ein wirklich dünner Hering war, jemand, der nicht einmal sechzig Kilo wog, riss ihn die Strömung mit sich, und viel schneller, als er es jemals gedacht hätte, erreichte er die nächstgrößere Stadt. Natürlich hätte er auch zu Fuß gehen können. Aber das hätte viel zu viel Zeit gekostet. Großvater wollte die Weltverbesserung so schnell wie möglich hinter sich bringen. In ein, zwei Tagen hoffte er wieder zurück zu sein. Ein, zwei Tage hielt er für ausreichend, um eine Machtzentrale der herrschenden Klasse zu finden, dort die Bombe zu deponieren, zu zünden und wieder zu verschwinden. Wenn sein Plan aufging, bedeutete das für Herbert und ihn, noch vor dem Sommer ein Fahrrad zu besitzen. Dann würde die Welt tatsächlich um einiges besser sein. Dann auf jeden Fall. Großvater dachte während der letzten vier im Dorfbach zurückgelegten Kilometer ausschließlich an Fahrräder, an verchromte Speichen und Gangschaltungen, an Schutzbleche und Dynamos, an Pedale, Luftpumpen und Rücklichter. Als ihm zu guter Letzt, also nachdem er an Bremsen, Gepäckträger, Sattel und Lackierungen gedacht hatte, sogar noch einfiel, dass ein Fahrrad, weil sich mit ihm Entfernungen schneller bewältigen ließen, den Klassenkampf erheblich erleichterte, wenn nicht sogar überflüssig machte, schwemmte ihn der Bach ans Ufer. Abrupt, brutal und völlig überraschend. An einer Böschung mit rundgespülten Kieselsteinen und vom Wasser freigelegten, langen, zerfaserten Wurzeln blieb Großvater einfach im Schlamm stecken. Schwarzer, fauliger Unrat bedeckte ihn von oben bis unten, und wer sah, wie er mit weit nach vorn geschobener Unterlippe nach Luft schnappte, hätte ihn für einen Fisch oder ein anderes Wassertier halten können. Er war ein wenig benommen und stand nicht sofort auf, sondern blieb in dem flachen Gewässer sitzen und betastete den Koffer mit der Bombe, seine aufgeschlagene Hand und seine vor Nässe triefende Kleidung. Als er schließlich seinen Kopf hob, blickte er zuerst auf die Fassade eines viergeschossigen Wohnhauses, in dessen Fenstern sich die Sonne und die Fassade eines ihm gegenüberstehenden, noch höheren Wohnhauses spiegelten. Hinter den Fenstern befanden sich Gardinen und Blumentöpfe und ein Käfig mit einem Kanarienvogel und eine Katze auf einer Wolldecke, und eines der Fenster stand offen, und ein Mann sah heraus und blies den Rauch einer dicken, braunen Zigarre in die Luft.

      »Hm«, sagte Großvater und betastete noch einmal seine an der Haut klebende Kleidung.

      Die Bombe hatte den Koffer verbeult, und der Knoten seiner gestreiften Krawatte hatte sich gelöst, und als er versuchte, einige Algen aus seinem Gesicht zu entfernen, berührte er etwas Lebendiges, einen Wurm oder einen Lurch, woraufhin es ihn vor Ekel schüttelte, und als er danach seinen Kopf wieder hob, blickte er in das Gesicht einer jungen Frau.

      »Hm«, sagte Großvater, und dann noch einmal: »Hm.«

      Eigentlich war ihm danach, noch mehrere Male »hm« zu sagen. Weil er sich so wunderte. Weil er mit allem gerechnet hatte, aber nicht damit, hier einer Frau zu begegnen. Er hatte mit Polizisten gerechnet, mit Landstreichern oder einer Gruppe lärmender Fabrikarbeiter, aber nun war es eine junge Frau. Hm. Großvater begann sich noch unwohler zu fühlen als vorher. Niemand begegnet gern einem Fremden, wenn er in einem schlammverkrusteten Anzug im schmutzigen Wasser eines Dorfbaches sitzt, und schon gar nicht einer hübschen jungen Frau. Denn hübsch war sie, das hatte Großvater auf den ersten Blick bemerkt. Sie trug kurz geschnittenes Haar, und das machte ihre Augen groß, viel größer, als sie es bei langem Haar gewesen wären, und weil sie ein schmales, beinahe dünnes Gesicht besaß, wirkte auch ihr Mund viel größer, als er eigentlich war. Großvater fand beides phänomenal.

      »Alles in Ordnung?«, fragte sie. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

      »Nichts«, sagte Großvater, »das sieht schlimmer aus, als es ist.«

      Allerdings wusste er überhaupt nicht, wie schlimm es aussah. Tatsächlich sah es extrem schlimm aus. Noch schlimmer konnte etwas eigentlich nicht aussehen. Die junge Frau bückte sich und streckte ihren Arm zu Großvater herunter.

      »Sind Sie verletzt?«, fragte sie. »Da, nehmen Sie meine Hand!«

      »Unsinn«, sagte Großvater, »das geht schon!«

      »Nun stellen Sie sich nicht so an!«, sagte die junge Frau. »Sie können ja nicht ewig da unten sitzen bleiben!«

      »Na gut«, sagte Großvater. »Wie Sie wollen!«

      Er fasste nach der ihm entgegengestreckten Hand und versuchte, sich aufzurichten. Es gelang ihm nicht sofort. Mehrmals gab der Boden unter ihm mit einem glucksenden Geräusch nach und Großvater rutschte wieder zurück ins Bachbett. Aber es war seltsam. In dem Moment, als er nach der Hand der jungen Frau fasste, geschah etwas Unglaubliches: Er hatte plötzlich das Gefühl, sie nie wieder loslassen zu können. Das passierte ihm später noch häufig, aber weil es das erste Mal war, irritierte es ihn gewaltig. So was Verrücktes, dachte Großvater, wenn ich das später irgendjemandem erzähle, das glaubt mir keiner. Dann aber schaffte er es, die Böschung zu überwinden, hievte den Koffer nach oben, und erst als er sich bückte, um seine Schuhe auszuziehen und das Wasser herauszuschütteln, ließ er die Hand der jungen Frau wieder los.

      »Vielen Dank«, sagte er, »das war sehr freundlich von Ihnen!«

      »Schon gut«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre etwas Ernstes«.

      »Zum Glück nicht«, sagte Großvater, und dann fiel ihm plötzlich nichts mehr ein, was er hätte sagen können. Deswegen sagte er wieder einmal:

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