Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Lothar Becker

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Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker

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gibt’s denn?«, fragte die Frau.

      Else zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte sie, »keine Ahnung.«

      Die Frau presste die Tüte mit dem Futter an ihre Brust. »Gehen Sie weg!«, sagte sie, und dann noch einmal: »Sie sollen weggehen! Haben Sie nicht gehört?«

      »Schon gut«, sagte Else und lief genau dieselbe Anzahl von Schritten wieder dorthin zurück, wo Großvater auf sie wartete.

      »Sie denkt, ich will ihr das Futter wegessen!«, sagte Else. »Verrückt, oder?«

      Ein leichter Nebel war aufgekommen und verwischte die Umrisse und Farben der Häuser und Gärten, und die Pflastersteine der Straße glänzten matt und dunkel wie nach einem langen, kalten Regen.

      »Was ist eigentlich mit der Polizei?«, versuchte es Großvater, ohne auf die Frau bei den Schwänen einzugehen, noch einmal. »Die Polizei ist ein Machtorgan. So habe ich es in Genosse Franks Traktat gelesen.«

      »Die Polizei?«

      »Ja.«

      »Die Polizei ist natürlich auch im Rathaus«, sagte Else, aber es war ihr anzusehen, dass sie es lieber nicht gesagt hätte.

      »Also doch!«, rief Großvater.

      »Du willst doch die Bombe nicht etwa im Polizeirevier zünden?«, rief Else.

      »Das scheint mir das Vernünftigste zu sein«, sagte Großvater.

      »Vernünftig? Hast du tatsächlich vernünftig gesagt?« Else konnte es nicht fassen.

      »Die Welt kann nicht so bleiben, wie sie ist«, sagte Großvater. »Es kann nicht sein, dass ein paar wenige alles haben und die anderen nichts. Wir müssen etwas dafür tun, dass es besser wird!«

      »Und du glaubst, dadurch, dass du eine Bombe hier im Rathaus zündest, wird irgendetwas besser?«, rief Else.

      »Es ist ein Anfang«, verteidigte sich Großvater. »Einer muss anfangen. Alles andere ergibt sich von selbst.«

      »Und dieser Eine bist du?«, fragte Else.

      »Herbert wollte es nicht machen«, sagte Großvater.

      »Ist Herbert vielleicht der Schlauere von euch beiden?«, fragte Else.

      »Unsinn«, antwortete Großvater.

      »Wirf sie weg«, sagte Else.

      »Ausgeschlossen!«, sagte Großvater.

      In seinem Kopf begann es wieder zu arbeiten. Er dachte an die Ausbeutung der Massen und an die Diktatur des Proletariats und seltsamerweise dachte er auch an den Hackstock, auf dem Herbert den Hühnern die Köpfe abschlug, und an das Beil, mit dem er es machte, und an die Federn, die durch die Luft schwirrten, wenn die Klinge in das Holz krachte und der Hühnerkopf in den Staub fiel. Und dann dachte er an einen Topf mit heißer Hühnersuppe auf dem Küchenherd und daran, dass eben manchmal etwas Schlechtes getan werden musste, um etwas Gutes zu erreichen. Es gab kein Licht ohne Schatten. Die Welt funktionierte nun einmal auf diese Weise. Es war fast zu einfach. Das Richtige war immer auch das Falsche und das Falsche gleichzeitig das Richtige. Genauso, wie man nie wissen konnte, ob das Kluge das Dumme oder das Dumme das Kluge war. Trotzdem musste man anfangen. Bevor man es nicht getan hatte, war es weder das eine noch das andere. Bevor man es nicht getan hatte, war es nichts.

      »Ich habe es schließlich versprochen«, sagte er leise.

      Else sah ihn an. »Komm, ich mache uns was zu essen«, sagte sie, nahm Großvater an der Hand, und dann gingen sie zurück in ihre Wohnung. Else kochte Kartoffeln, und als sie gegessen hatten, räumte sie die Teller vom Tisch und wusch sie ab. Zuletzt zeigte sie auf das Kanapee, das ein Stück vom Tisch entfernt unter der Dachschräge stand, und sagte: »Wenn du müde bist, kannst du dort schlafen.«

      »Danke«, sagte Großvater, »auch für das Essen und alles.«

      Er war tatsächlich hundemüde, so müde wie damals, als er und Herbert zwei Nächte lang darüber diskutiert hatten, ob es Sinn hatte, sich eine Luftpumpe zu kaufen, noch bevor sie ein Fahrrad besaßen. Herbert war der Ansicht gewesen, dass der Erwerb einer Luftpumpe die Wahrscheinlichkeit vergrößerte, irgendwann in den Besitz eines Fahrrades zu gelangen. Ihm erschien der Gedanke nicht völlig abwegig, mit einer Luftpumpe ein Fahrrad anlocken zu können. »Manchmal führt das eine zum anderen«, hatte er gesagt. »Manchmal ist es gut, gewisse Vorbereitungen getroffen zu haben«. Großvater hielt die Idee für völligen Unsinn und hatte das auch gesagt, aber Herbert war nicht zu überzeugen gewesen. »Du solltest jedenfalls eine Luftpumpe kaufen«, hatte er Großvater aufgefordert. »Für alle Fälle, du weißt schon!«

      Herbert besaß die Begabung, selbst dem Unsinnigsten einen Anschein von Vernunft zu verleihen. Außerdem verstand er sich darauf, die Loyalität seiner Freunde auszunutzen. Denn natürlich hatte Großvater die Luftpumpe gekauft, was denn sonst.

      Großvater schloss die Augen, machte sie wieder auf und sah Else an. Ihr kurzes Haar, ihre großen Augen.

      »Gute Nacht!«, sagte er.

      »Ich bin immer noch dafür, dass du die Bombe wegwirfst«, sagte Else. Dann ging sie in das Zimmer, aus dem sie am Nachmittag die trockene Kleidung geholt hatte.

      Und Großvater schaute ihr nach, hörte, wie sie die Tür von innen schloss, und dass sie noch einige Schritte durch das Zimmer ging, und dann legte er sich auf das Kanapee, das wahrscheinlich für Elses Vater gemacht worden war, denn es war sehr breit und unglaublich kurz, und hart war es auch.

      Am nächsten Morgen wachte Großvater sehr früh auf. Er faltete die von Elses Vater geborgte Kleidung zusammen und legte sie auf einen Stuhl. Dann zog er seinen getrockneten Anzug an, packte die Bombe wieder in den Koffer und schlich sich zur Tür hinaus. Jetzt, am Morgen, saßen dort, wo am Abend die Frau die Schwäne gefüttert hatte, einige Angler. Es war ein kalter Morgen und am Wasser war es noch um einiges kälter als auf dem Weg zwischen den Wohnhäusern. Die Angler hockten wie angefroren auf ihren Klappstühlen und auch ihre Angeln bewegten sich keinen Zentimeter. Aber die Schwäne waren noch da, und das Wasser spiegelte ihre weißen Hälse und roten Schnäbel, und kleine Federn schaukelten um sie herum auf den leichten Wellen des Baches. Großvater ging leise an ihnen vorbei. Extrem leise. Nahezu geräuschlos. Großvater ging die Straße entlang, als existiere er überhaupt nicht. Wie niemand. Weil er beim Deponieren der Bombe nicht gestört werden wollte. Saboteure gab es überall. So stand es jedenfalls in Genosse Franks Traktat. In Großbuchstaben. So deutlich, dass man nicht darüber hinweglesen konnte. Man musste aufpassen. Immer. Das war klar, und noch eines war extrem wichtig: Man musste ständig das Bild Genosse Lenins vor Augen haben.

      »Ohne Lenin geht nichts«, schrieb Genosse Frank. »Mit dem Bild des großen Lenin steht und fällt die ganze Sache!«

      Lenin, dachte Großvater, wer zum Teufel ist Lenin? Er hatte tatsächlich keine Ahnung, wer Lenin war, und schon gar nicht, wie Lenin aussah. Vielleicht hat er ja Ähnlichkeit mit Genosse Frank, dachte Großvater. Vielleicht sieht auch dieser Lenin aus wie ein zum Sprint ansetzender Radfahrer.

      Aber natürlich konnte er auch ganz anders aussehen. Wie jemand, der sich nach dem Händewaschen die Hände noch einmal wusch, weil er befürchtete, sich beim ersten Händewaschen schmutzig gemacht zu haben, oder wie

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