Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen. Lothar Becker
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Читать онлайн книгу Als Großvater im Jahr 1927 mit einer Bombe in den Dorfbach sprang, um die Weltrevolution in Gang zu setzen - Lothar Becker страница 5
»Oder du«, sagte Großvater.
Das Blatt wirbelte noch immer über die Straße, es hob und senkte sich und schwebte schließlich bis weit hinunter ins Dorf.
»Ihr und die Partei!«, sagte Anita. »Ihr tut ja gerade so, als ob die ein Lotterie-Hauptgewinn wäre!«
»Na und?«, fragte Herbert.
»Ach nichts. Nur so«, sagte Anita.
»Die Revolution ist nicht aufzuhalten!«, rief Herbert.
»Ihr müsst es ja wissen«, sagte Anita.
»Rotfront!«, rief Herbert.
»Das wird mir jetzt aber zu blöd«, sagte Anita, zog ihren Rock straff und stakste quer über die Wiese dorthin zurück, wo sie vor wenigen Minuten hergekommen war.
»Die kapiert es nicht«, sagte Herbert.
»Nee«, sagte Großvater, »die kapiert es wirklich nicht.«
Dann, nach einiger Zeit, als es wirklich Sommer geworden war, hatte in all dem Licht und der Wärme die Weltrevolution ein wenig an Dringlichkeit verloren. Herbert hatte jede Menge Hühner geschlachtet und Großvater war mit der Buchführung des Sägewerks beschäftigt gewesen. Dazwischen hatten sie auf der menschenleeren Dorfstraße Fußball gespielt, und einmal war Herbert mit Gisela ausgegangen, aber bei diesem einen Mal war es geblieben, und weil Herbert nicht gern darüber redete, lag der Schluss nahe, dass es weder Gisela noch ihm besonders gut gefallen hatte. Trotzdem, Sommer war Sommer, und erst als die Tage wieder kürzer wurden, der Himmel sich verfinsterte und die Temperaturen zu sinken begannen, kehrte der Bedarf an einer Neuregelung der Weltordnung in Großvaters und Herberts Universum zurück.
»Die gesellschaftlichen Verhältnisse sind unerträglich geworden«, konstatierte Herbert eines Abends. Er hatte noch etwas Blut und einige Federn an seiner Hand und versuchte, sie durch heftiges Schütteln loszuwerden.
»Der Kapitalismus fault in seinem letzten Stadium«, bekräftigte Großvater.
»Das ganze ekelerregende System verrottet auf die übelste Weise«, fügte Herbert hinzu und begann, seine Hand an der Hose zu reiben.
»Man kann seine Verwesung förmlich spüren.« Großvater nickte mehrmals, während er einer an ihm vorbeischwebenden Hühnerfeder nachsah.
»Es widert mich an«, sagte Herbert. »Aber das geht nicht mehr lange, verlass dich darauf!«
Sie standen vor einer der Scheunen am Dorfrand und der Oktober zog über die Wiesen und die Kastanien hatten braune Blätter und von Tag zu Tag bedeckten mehr und mehr Spinnweben voller Wassertropfen das Gras.
»Wohin man sieht, das Alte gärt überall. Der Boden für die Revolution ist bereitet!«, sagte Großvater.
»Und wie!«, sagte Herbert.
Mehr fiel ihnen dazu nicht ein.
Kapitel 3
Und dann war es Winter geworden. Der Winter, in dem Großvater und Herbert beschlossen hatten, eine Bombe zu bauen und sie in einer Machtzentrale der herrschenden Klasse detonieren zu lassen. Genosse Franks Besuch lag nun über ein halbes Jahr zurück und es war nichts passiert. Absolut gar nichts. Herbert hatte es satt.
»Wenn ich nicht bald ein Fahrrad bekomme, trete ich aus der Kommunistischen Partei wieder aus!«
Großvater legte ihm die Hand auf die Schulter. Wie bei einem Pferd. »Von nichts kommt nichts«, sagte er, »wir müssen etwas tun, hörst du?«
»Du bist gut«, sagte Herbert. »Was denn?«
Großvater überlegte relativ lange, aber er wusste es auch nicht. Doch dann, auf einmal, fragte er: »Wo ist eigentlich das Traktat?«
»Welches Traktat?«
»Welches Traktat wohl? Na, das von Genosse Frank!«
Sie fanden es und lasen schließlich auch die Seiten vier und fünf, also die Seiten, auf denen nicht nur die Vorzüge der Weltrevolution, sondern auch der Weg dahin beschrieben wurde. Zwangsrequirierung, Kollektivierung, Säuberung, Elektrifizierung, Entkulakisierung, Neutralisierung … Großvater und Herbert schwirrte der Kopf. Sie verstanden nichts, absolut nichts.
Irgendwann war Herbert dann auf die Idee mit der Bombe gekommen. Seiner Ansicht nach wurden die größten Wirkungen generell durch Lärm erzeugende Phänomene erreicht. Gewitter waren ein gutes Beispiel dafür oder der tobsüchtige Schuhmacher. Wenn etwas Krach verursachte, wurde ihm augenblicklich die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil. Das war so. Eine Detonation von irgendwas schreckte die Leute mehr auf als alles andere. Dass eine Bombe imstande war, für ordentlich Furore zu sorgen, lag auf der Hand. Wenn es mit einer Bombe nicht funktionierte, womit dann? Allerdings war eine Bombe nun auch kein Spaß mehr. Wo eine Bombe im Spiel war, floss garantiert Blut, und im Gegensatz zu Herbert, der seinen Lebensunterhalt mit Blutvergießen bestritt, war Großvater gegen Gewalt und hielt noch immer das Verbot von Dummheit für die effektivere Methode, die Welt zu verbessern.
»Gerechtigkeit erreicht man nicht durch Ungerechtigkeit«, sagte er.
»Aber die da oben haben schließlich damit angefangen!«, widersprach Herbert, der sein Fahrrad schon wieder in Gefahr sah.
»Das ist noch lange kein Grund, es ihnen nachzumachen«, sagte Großvater.
»Wieso denn nicht?« Herbert griff sich an den Kopf. »Die haben es doch nicht besser verdient! Ich möchte nicht wissen, wie viele Fahrräder die haben!«
»Genosse Frank hat auch eines«, sagte Großvater.
»Das ist doch was anderes!«, brüllte Herbert. »Das weißt du ganz genau!«
Großvater versuchte, Herbert zu beruhigen. »Warte ab, uns fällt schon noch was ein!« Er nahm das Traktat noch einmal in die Hand, blätterte darin herum und tippte nach einer Weile mehrmals mit seinem Zeigefinger auf ein längeres Wort auf Seite vierzehn. »Hier, sieh mal!«, sagte er. »Warum versuchen wir es nicht damit?«
Herbert stellte sich hinter Großvater und blickte über dessen Schulter auf das Traktat. »Agitprop«, las er. »Was soll das denn sein?«
»Keine Ahnung«, sagte Großvater.
»Na, toll«, sagte Herbert.
»Wenn Frank wiederkommt, frage ich ihn«, sagte Großvater und klappte das Traktat zu.
»Bis dahin haben wir die Bombe längst fertig«, meinte Herbert.
Draußen fiel der Schnee so dicht, dass die Baumkronen schon nicht mehr zu erkennen waren, und wenn jemand die Tür öffnete, blies der Wind einen Schwall weißer Flocken bis in die Mitte des Raumes.
»Versteh mich doch«, sagte Großvater, »ich finde es einfach nicht richtig!«
»Weißt du, was ich denke?«, fragte Herbert. »Du bist nur zu feige, es durchzuziehen!«
»Jetzt red nicht so einen Stuss«, sagte Großvater.