Unschuldsengel. Petra A. Bauer
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«Wieso?»
«Sie reden so.»
«Nee, ick komm aus der Lausitz. Aber wir könn’ ooch keen Hochdeutsch.» Mina verzog das Gesicht. Es war ihr ein bisschen peinlich, dass sie auf einen so offensichtlich kultivierten Mann den Eindruck einer Berliner Rotzgöre machte.
«Das ist doch charmant, mein Fräulein.» Der Mann lächelte sie an und fixierte sie mit seinem Blick. «Ich habe mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt. Gestatten, Emil Weinhaus.» Er lüpfte leicht den Hut.
«Ick bin Wilhelmina Kowalewski.»
«Entzückender Name! Sie haben wohl kaisertreue Eltern gehabt?»
«Zumindest ham wir Kaiser Wilhelm mal bei einer Parade Unter den Linden jesehn, als ick noch kleen war.» Mina musste kurz an die Propellerschleifen denken und an das Familienphoto, das ihren gefallenen Bruder zeigte. Berlin riss alte Wunden wieder auf.
Sie kamen ins Plaudern.
«Waren Sie auf der Funkausstellung, Fräulein Mina?»
Die Art, wie er Fräulein Mina zu ihr sagte … Das klang ganz sanft, und es gefiel ihr. «Ja, ick war mit meener Freundin und iam Verlobten da. Die sind jetzt beede da oben.» Sie deutete auf das Funkturmrestaurant, ohne jedoch hoch zusehen.
Das tat jedoch Herr Weinhaus.
Mina plapperte unterdessen weiter darüber, wie langweilig die Messe gewesen sei mit all den Radios und Kopfhörern.
«Ich bin ja nicht so fürs Radio», erwiderte Weinhaus. «Ich bin ein Mann der Bücher.» Er klopfte auf seine Aktentasche und deutete auf ein kleines Köfferchen, das Mina zuvor entgangen war. «Im Grunde bin ich unterwegs zu einer Buchhandlung, der ich einige Neuerscheinungen vorlegen wollte. Doch nun hat mich der Hunger gepackt. Wäre es sehr aufdringlich von mir, wenn ich Sie zu einem kleinen Imbiss einladen würde?» Seine blauen Augen ruhten auf ihr.
Mina war nicht sicher, ob sich das eigentlich schickte. In Bückgen wäre es ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, seiner Bitte nachzukommen. Aber in Berlin? Da fiel es womöglich nicht weiter auf. Und Hunger hatte sie obendrein. Das hatte sie vorher gar nicht bemerkt, doch jetzt knurrte ihr Magen wie auf Kommando ziemlich undamenhaft. Sie lachte. «Solange wir den Imbiss nicht dort oben einnehmen müssen, soll es mir recht sein.» Dann hob sie scherzhaft drohend den Zeigefinger: «Aber nicht, dass Sie glauben, ich hätte so etwas schon einmal gemacht!»
Er fuhr mit ihr ins Café Möhring am Kurfürstendamm. Die imposanten Gebäude beeindruckten Mina stets auf Neue: der Gloria-Palast nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche, das Nelson Theater, in dem Josephine Baker aufgetreten war und offenbar ganz Berlin mit dem Charleston-Virus angesteckt hatte, das Romanische Café, in dem sich Künstler, Schauspieler und Literaten trafen, sowie das Marmorhaus, ein weiterer Lichtspielpalast. Hier fühlte Mina sich lebendig.
Im Café saßen sie einander gegenüber, jeder an einem Fensterplatz. Der Kuchen war köstlich, und die Aussicht auf die vorbei flanierenden Damen und Herren im Sonntagsstaat war unterhaltsam.
«Se ham jesacht, Se sinn Vertreter für Bücher?»
«Bücher sind mein Leben. Und Sie? Lesen Sie auch?»
«Wahnsinnich jerne! Zu Hause hatt ick einje Bücher, die hab ick immer und immer wieder jelesen. Damals hatt ick aber ooch noch mehr Zeit», setzte sie hinzu.
«Was lesen Sie denn am liebsten?» Er sah sie forschend an. Mina errötete leicht. «Det sag ick lieber nich.»
«Oh, Sie müssen sich nicht zieren.» Weinhaus bückte sich und öffnete das Köfferchen. Anschließend tauchte er mit drei Büchern in der Hand über der Tischkante wieder auf.
Belladonna. Ein Liebesroman, las Mina, dann Der Weg durch die Nacht und Van Zantens glückliche Zeit. Ein Liebesroman von der Insel Pelli. Sie lächelte. «Sie ham mir erwischt.»
«Dachte ich es doch.»
«Ick mag Liebesromane. Janz besonders jern les ick Jane Austen. Stolz und Vorurteil hatte meene Mutter noch und hattet mir jejeben.»
«Jane Austen hat auch außergewöhnliche Dinge geschrieben – aber keine reinen Liebesromane. Also müssen Sie sich nicht mal schämen. Obwohl es da, streng genommen, ohnehin nichts zu Schämen gibt, Fräulein Mina.»
Da war es wieder: Fräulein Mina. Es klang schon irgendwie vertraut.
Als sie sich ansahen, lag eine lauernde Spannung zwischen ihnen, die jedoch abrupt von Weinhaus unterbrochen wurde, als er den Kellner um die Rechnung bat. «Das schenke ich Ihnen», sagte Weinhaus, als der Kellner wieder gegangen war, und legte ein Buch vor Mina auf den Tisch. «Es ist soeben auf Deutsch erschienen und scheint sehr vielversprechend zu sein. Ein Liebesroman, leicht lesbar und doch spannend.»
Mina sah ungläubig auf Der Weg durch die Nacht von John Knittel. «Das kann ich doch nicht annehmen.»
«Selbstverständlich können Sie! Es ist mein Dankeschön für unsere nette Unterhaltung.»
«Sie ham doch schon den Kuchen bezahlt.»
«Dann betrachten Sie es als Arbeitsaufgabe!»
Mina sah ihn fragend an.
«Sie lesen das Buch und sagen mir, was Ihnen daran gefallen hat und was nicht. Dann kann ich sozusagen mit einer Buchbesprechung aus erster Hand zu den Buchhändlern gehen.» Er lächelte.
Mina wollte schon zustimmen, zögerte dann jedoch. Weinhaus schien zu wissen, was sie sagen wollte. «Dazu müssten Sie sich jedoch überwinden, mich noch einmal wieder zusehen.» Mina spürte, wie die Röte langsam ihr Gesicht empor wanderte. Das kostet doch keine Überwindung, dachte sie. Wenn ich nur wüsste, ob sich das schickt. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass es gleichgültig war, ob es sich schickte oder nicht. Es musste ja niemand erfahren. «Einverstanden!», sagte sie schließlich.
«Dann würde ich mich aufrichtig freuen, wenn wir uns in einer Woche hier wieder um fünfzehn Uhr treffen würden. Können Sie das einrichten?»
Auf dem Nachhauseweg war Mina sehr damit beschäftigt, ihre Hände ruhig zu halten, die ohne Unterlass zitterten, als hätte sie nicht nur eine Tasse Kaffee getrunken, sondern fünf. Zugegeben, der Kaffee war kräftig gewesen, das war sie nicht gewohnt. Doch das Zittern kam auch aus ihrem Herzen. Das ist inzwischen der zweite Mann, der mich um ein Wiedersehen bittet, dachte Mina. Ob es im Leben wohl immer so weitergehen würde? Sie umklammerte das Buch, las aber noch nicht darin. Es war zu kostbar, um es im Omnibus oder der Bahn zu entweihen, die voller Menschen waren, die nicht zu würdigen wüssten, welchen Schatz sie bei sich trug.
Die U-Bahn mied sie heute, sie fühlte sich nicht danach, im dunklen Tunnel unterwegs zu sein. Dann dachte sie plötzlich an Siegfried, und das schlechte Gewissen drohte, sie zu übermannen. Gleichzeitig fragte sie sich, womit er diese Rücksichtnahme überhaupt verdient hatte. Schließlich hatte er Mina verlassen und nicht umgekehrt. Aber sie konnte ihn einfach nicht vergessen.
Mina schaute aus dem Fenster. Bei dem schönen Wetter schienen fast nur Liebespaare unterwegs zu sein. Einige hielten sich an den Händen, einige wagten dies nicht und beschränkten sich auf verzehrende Blicke. So viele Menschen, die einander liebten! Trauerte sie Siegfried vielleicht völlig umsonst hinterher? Gab es