... und hinter uns die Heimat. Klaus-Peter Enghardt

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... und hinter uns die Heimat - Klaus-Peter Enghardt

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gib mir doch mal meine Lesebrille«, bat er.

      Elfriede Knieschitz drehte sich auf ihrem Stuhl herum und angelte die Brille von der Kopfstütze des Sofas, wo sie auf der Zeitung lag, die ihr Mann vor ein paar Minuten noch gelesen hatte.

      Inzwischen hatte er sich mit einem Lineal ausgerüstet, das er als Orientierungshilfe auf die Karte legte. Mit dem Zeigefinger fuhr er von links nach rechts am Lineal entlang und las leise vor sich her murmelnd die jeweiligen Orte vor.

      »Hast du es gefunden?«, fragte seine Frau nach geraumer Zeit ungeduldig und ihr Mann brummte: »Dann hätte ich es doch gesagt!«, und suchte emsig weiter.

      Katharina las die wenigen Zeilen bereits zum siebenten oder achten Mal, doch es gab da keinen genauen Anhaltspunkt, wo sich dieser Ort befand.

      Plötzlich hatte sie eine Idee. Sie schaute noch einmal in den Briefumschlag und entdeckte tatsächlich einen Zettel, auf dem die nähere Beschreibung der Ortschaft »Loditten« notiert war.

      »Hier, Papa. Da steht die Bahnstation drauf und auch eine Wegeskizze ist dabei!«, triumphierte Katharina.

      Paul Knieschitz nahm die Wegbeschreibung in die Hand und las darauf den Namen der Bahnstation »Zinten«.

      Anhand der Wegbeschreibung erfuhr die Familie nun, dass Katharinas Reise von Köln aus über Dortmund und Hannover nach Berlin-Charlottenburg führen wird. Dort muss sie für eine Nacht Quartier nehmen, um am darauffolgenden Tag vom Stettiner Bahnhof in Berlin-Charlottenburg über Dirschau und Elbing zunächst nach Königsberg zu fahren.

      In Königsberg muss sie das zweite Mal Quartier nehmen, weil sie sich dort bei dem zuständigen Kirchen- und Schulamt zu melden hatte. Sind dann die Formalitäten erledigt, kann sie endlich den Zug Königsberg – Allenstein besteigen, der auch in Zinten hält.

      Von Zinten ist es dann nur noch eine kurze Wegstrecke bis nach Loditten.

      Das las sich auf dem Zettel eigentlich recht unkompliziert, für Katharina bedeutete es jedoch, drei Tage unterwegs zu sein.

      Elfriede Knieschitz nahm ihre Tochter schluchzend in ihre Arme, doch Vater Paul hatte sich bereits wieder über die Karte gebeugt und fuhr mit seinem Finger die Strecke ab.

      Noch während Elfriede ihre Tochter umarmt hielt, hatte sich Vater Paul einen Bleistift und ein leeres Schreibblatt geholt, um seiner Tochter jede wichtige Station ihrer Reise aufzuschreiben und aufzuzeichnen.

      Nachdem Frau Knieschitz ihre Tochter wieder aus ihren Armen entlassen und sich ihre Tränen getrocknet hatte, fragte sie mit mühsam fester Stimme: »Wo liegt denn nun dieses Loditten, und wie weit ist es von Köln entfernt?«

      Paul Knieschitz legte seiner Frau einen Arm um die Schulter und sagte versöhnlich: »Na, nun komm mal her, ich zeige es dir.«

      Auch Katharina beugte sich über die Karte und verglich die Stationen mit den Aufzeichnungen ihres Vaters, die noch genauer waren, als die auf dem Zettel im Briefumschlag. Lediglich nach dem Dorf Loditten müsste sie sich beim Bahnhofsvorsteher in Zinten erkundigen, denn dieses Dorf war zu klein, um auf der Landkarte von Paul Knieschitz Berücksichtigung zu finden. Allerdings erschrak Katharina selbst ein wenig, als der Vater ihnen verriet, dass Loditten 1200 Kilometer von Köln entfernt ist. Doch da Katharina sehr selbständig und vor allem sehr selbstbewusst war, hatte sie vor der Reise keine Bange. Nur vor der Trennung von ihren Eltern hatte sie ein wenig Angst, aber es gab ja Ferien und da wollte sie ihre Eltern recht oft besuchen. Und wer weiß, wenn sie alles für sich gerichtet hatte, könnten die Eltern sie ja auch einmal in Loditten besuchen.

      Mutter Knieschitz murmelte nach Katharinas Vorschlag:

      »Na, mal sehen, ob ich mir so eine weite Reise zutraue, Kind. 1200 Kilometer, davor graust es mir doch ein wenig.«

      Niemand wollte zu jenem Zeitpunkt daran denken, dass der Krieg ihre Pläne durchkreuzen könnte.

      Die folgenden Tage rückte die kleine Familie noch enger zusammen. Obwohl der Vater wusste, dass seine Tochter in Ostpreußen sicherer aufgehoben war, als in Köln, fiel ihm die Trennung schwerer, als die beiden Frauen ahnten.

      Für ihn war seine Tochter noch immer das kleine Mädchen, das er ihr Leben lang vor allem Bösen beschützt hatte, doch in diesem menschenverachtendem Krieg, bei dem in den Städten maßgeblich Zivilisten betroffen waren, konnte er seine Tochter nicht mehr beschützen. Seine Frau weinte oft still und dachte, dass es unbemerkt bleiben würde, doch sowohl ihr Mann, als auch ihre Tochter bemerkten es sehr wohl.

      Katharina hatte noch einige organisatorische Dinge zu klären. Das Wichtigste war die polizeiliche Abmeldung in ihrem Stadtbezirk Köln-Ehrenfeld.

      Beim evangelischen Kirchenamt holte sie sich die Kopien ihres Taufscheins und ihrer Konfirmationsurkunde ein. Danach ging es an’s Koffer packen.

      Obwohl sie bemerkte, wie schwer den Eltern die Trennung fiel, wünschte sie sich den Tag ihrer Abreise herbei, um dieser bedrückenden Atmosphäre entfliehen zu können.

      Wenn sie erst einmal ein paar Wochen weg war, würden sich ihre Eltern sicher an das Leben auf Distanz gewöhnt haben.

      Von Tante Ida hatte sie sich bereits verabschiedet.

      Auch sie hatte beim Abschied geweint. Niemand konnte wissen, wie sich die Situation in Köln in den nächsten Monaten entwickelte und ob es ein Wiedersehen geben würde.

      Am letzten Tag vor ihrer Abreise saß die kleine Familie noch einmal am Küchentisch zusammen und Katharina musste zahlreiche gut gemeinte Verhaltensregeln über sich ergehen lassen, die ihr die Mutter und auch der Vater in den vergangenen zwei Wochen bereits mehrfach erteilt hatten.

      Es war natürlich verständlich, schließlich tobte ein schrecklicher Krieg, dessen Verlauf niemand vorhersagen konnte.

      Obwohl sie am Abend mit den Gedanken an ihre große Reise ins Bett gegangen war, hatte sie ruhig geschlafen und war sehr früh am Morgen von ihrer Mutter geweckt worden. Auch der Vater war bereits aufgestanden, obwohl er eigentlich noch schlafen könnte, doch er wollte sich natürlich ebenfalls von seiner Tochter verabschieden, und noch mehr, er bestand darauf, sie zum Bahnhof zu begleiten.

      Katharina schaute auf die Schatten an der Wand, die durch die flackernde Küchenlampe erzeugt wurden, blickte noch einmal auf die mit Leimfarbe gewalzten Wände und auf das Sofa, auf dem der Vater nach dem Sonntagsessen gern sein Schläfchen machte. Und obwohl auf dem weißen Wandschoner mit blauem Garn »nur ein Viertelstündchen« aufgestickt war, schlief Vater Paul meist eine ganze Stunde.

      Das Frühstück wollte nicht so recht schmecken. Zwar hatte sich die Mutter besondere Mühe gegeben, aber irgendwie saß allen dreien einen Kloß im Hals. Da konnte auch das bunte Blumensträußchen in der Vase die Stimmung nicht besonders auflockern.

      Katharinas Blick fiel auf die vertraute Küchenuhr über dem Herd, die der Vater vor vielen Jahren kunstvoll mit Blumen bemalt hatte und sie stellte fest, dass die Zeiger unerbittlich weiter rückten. Nach einer Weile sagte sie schließlich:

      »Nun muss ich aber los!«

      Paul Knieschitz stand wortlos auf und nahm seine Jacke vom Haken, denn so früh am Morgen war es noch ziemlich kühl, griff Katharinas schwere Koffer und ging in den Flur.

      Er wollte nicht zusehen, wie seine Frau tränenreich Abschied von ihrer Tochter nahm, es bräche ihm das Herz.

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