Prothesengötter. Frank Hebben

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Prothesengötter - Frank Hebben

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ROYALE

      Das Insekt ist zu mir geflogen, warum, weiß ich nicht. Falls es nicht aus einem benachbarten Container stammt, muss es den langen Weg durch die Lüftungsschächte genommen haben, das ganze verzweigte Röhrensystem hinauf bis zu meiner Arbeitszelle. Natürlich: kein echtes Tier, es gibt keine Insekten mehr in den Städten, zu heiß, zu viel Maschinenöl, zu viel Lärm, Elektrosmog und Dreck; doch die Kopie wirkt täuschend echt, solange ich mein Lupenauge nicht auf volle Brennweite stelle: Erst dann kann ich die Feinmechanik der Beine, Fühler und des ganzen Flugapparates sehen, ein Uhrwerk, das ins goldene Gehäuse eingepasst worden ist. Seine Flügel bestehen aus Glas.

      Wie ist es hier reingekommen?

      Hat es tatsächlich das ganze verzweigte Röhrensystem passiert, die riesigen Ventilatoren? Oder eine Fuge in einer Stahlwand gefunden, ein Loch vielleicht, ausgehöhlt von Regen, Korrosion? Ich zögere einen Moment; dann kopple ich mich vom Netzwerk ab, obgleich ich als Rechenknecht noch eine Reihe von Datenkaskaden zu verarbeiten habe, ehe meine Schicht vorbei ist – vorsichtig, ganz langsam entferne ich alle Licht-nadeln aus meinem Kopf.

      Durch die eingelagerten Informationen ist mein Schädel über die Zyklen hinweg angeschwollen, derart, dass meine Stirn vornüberhängt, aufgedunsen und weich wie ein Schwamm: Jede Nacht, jeden Tag wächst der Speichertumor weiter, um neue Zellverbände zu formen, Datenklassen, Unterklassen. Totes Gewebe wird nach außen abgegeben, bildet einen kupfernen Schorf auf der Haut, den ich ständig abschaben muss, eine lästige, schmerzhafte Prozedur, die ich gerne gelassen hätte; doch es juckt und brennt und kann sich rasch entzünden, wenn ich die Hygiene vernachlässige.

      Ich kratze mich an der Stirn, an Wangen und Hals, worauf ich das Interface wegschwenke und auf Standby schalte. Mein Zeitkonto ist stark überbucht, doch dieses Insekt fasziniert mich zu sehr: schließlich das erste Mal, dass so etwas geschieht. Gewöhnlich wird der Kalkulationsprozess durch Stromausfälle oder eine Verstopfung der Nahrungshähne gestört; auch kommt es vor, dass mein Wohncontainer in eine neue Stadt, Fabrik oder Großhalle transportiert wird – doch Besuch bekomme ich nie, obwohl der Codex eine Interaktion zwischen Rechenknechten nicht verbietet, wenn auch nicht gerade begünstigt.

      Mit dem Rollstuhl fahre ich näher an das Insekt heran: Es hat das Lüftungsgitter inzwischen verlassen und schwirrt jetzt in Halbkreisen auf die Glühlampe zu. Dort steht meine Schlafwanne, halb gefüllt mit Isoliergel, einer braunen, geruchlosen Masse, die mich bei Nacht gegen Kälte schützt. Eine Heizung gibt es nicht.

      »Das ... ist«, sage ich, als die Glasflügel im Licht kurz aufblitzen. Seit Monaten habe ich kein Wort gesprochen – Zahlen; nur Zahlen auf Zahlen auf Zahlen.

      Die Lüftung brummt.

      Der Rollstuhl quietscht.

      Noch ein, zwei Schwünge, dann greife ich in die Räder und halte vor den Nahrungshähnen an. Ich schaue mich um. Wo ist es? Dort hinten: Es krabbelt auf dem Rand der Wanne und spreizt dabei die Flügel ab. Dreht die Fühler hin und her. Hebt seinen Hinterleib an. Was tut es da nur ... Daten sammeln, verwerten? Ich stelle mein Lupenauge neu ein, um diesen (Tanz) von Nahem zu betrachten:

      Ein rhythmischer Bewegungsablauf, eine Programmsequenz als Schleife, die nach fünf Sekunden von Neuem beginnt, sobald das Insekt zu Punkt A zurückgekehrt ist. Erstaunlich! Welcher Klasse gehört es an?

      Ich wende den Rollstuhl und bugsiere ihn durch einen Vorhang aus Kabeln, Teile meines Traumfängers, der neben der Wanne hängt, falls ich nicht einschlafen kann. Dahinter, in einer Ecke, befindet sich ein Büchergestell: zwei Kinderromane, eine Betriebsanleitung für einen Monoflügler und ein Lexikon, das auf dem Index steht; alle Folien verkrustet und braun. Umsichtig ziehe ich den Band heraus, lege ihn in meinen Schoß, um die Kapitel durchzublättern ...

      (Apis), kein Zweifel; der Bauplan des Insekts ist einer (Honigbiene) nachempfunden. Einer Königin.

      Ob jemand die Bienen gezielt zu mir sendet – von der Basis hierhin, hier nach oben, wo Windböen das rostige Containergerüst in 0,1 bis 0,3 Hz Schwingung versetzen? Ich habe mich längst an das konstante Schwanken gewöhnt. Anfangs, neu im Rechenverband 2.13 eingefügt, war das sehr störend gewesen: Permanenter Schwindel und Übelkeit hemmten meine Kalkulationen, führten sogar zu Rundungsfehlern, an denen allein diese (Nausea) schuld war. Ich habe die Krankheit nachgeschlagen, so wie ich jetzt erneut des Lexikon zurate ziehe, um herauszufinden, warum der (Bienenschwarm) diese bizarre Wabenstruktur in einer Nische über der Schlafwanne errichtet.

      Binnen Tagen hat sich ihre Anzahl zehnfach potenziert: Noch am selben Abend ist der Königin eine neue, kleinere Replikation gefolgt, der wiederum vier Artefakte gleichen Bautyps folgten ... Mittlerweile schwirren hunderte dieser Einheiten durch meinen Wohncontainer; verschwinden hinter dem Lüftungsgitter und kehren erst nach einer Weile zum, da steht es: (Bienennest), zurück.

      Aber wozu?

      Zu welchem Zweck kleben sie Hexagone aus schwarzem, industriellen Wachs aneinander?

      Ich will auch die restlichen analogen Zeilen in mich einspeichern, doch Schmerzen pochen in meinem Datentumor und mein Lupenauge brennt, alle Buchstaben verschwimmen. Erschöpft klappe ich das Lexikon zu und stelle es zurück ins Gestell. Morgen ein neuer Versuch.

      »Diese Methode des Datentransfers ist ineffizient«, sage ich zu meinen Bienen, mit denen ich bisweilen spreche, denn ich habe das Gefühl, dass sie mir tatsächlich zuhören: Beim Klang meiner Stimme unterbrechen sie ihren Bauprozess, stoppen die mechanischen Sequenzen; verharren wie abgeschaltet.

      Verfügen sie etwa über I/O-Schnittstellen, einen Prozessor? Oder ist das purer Zufall, ein Konstruktionsfehler, weshalb Schallwellen den Programmablauf hemmen können? Ich muss eine von ihnen sezieren ...

      Doch ich finde keine Zeit:

      Ein Signalton bedeutet mir, zum Terminal zurückzukehren und das Interface zu benutzen. Eine Nachricht für mich, bestimmt eine neue Verwarnung. Auch die letzten Tage habe ich nicht genügend kalkuliert und konnte das Defizit nicht tilgen, obwohl eine Nacht ohne Schlaf ausgereicht hätte, um die fehlenden Datenkaskaden abzuarbeiten. Aber mir war nicht danach.

      »Sie werden mir die Lizenz entziehen«, sage ich lauter in den Raum, um das Brausen zu übertönen, während ich den Rollstuhl mit kräftigen Schüben vorwärts bewege, an meiner Schlafwanne, an der Lüftung vorbei, auf deren Gitter die Bienen nur so wimmeln. Wie viele mehr werden der Königin noch folgen? Ihre wachsende Anzahl irritiert mich, denn mein Wohnraum ist eng, obwohl ich ihre Nähe bis jetzt nicht als störend empfinde – im Gegenteil: Ein mir halb bewusstes Gefühl von Leere ist verschwunden. Ich fühle mich ... wohl.

      Stoppe die Räder; lege die Fahrsperre an, ehe ich hastig nach dem Glasfaserbündel greife, um alle Lichtnadeln in den Kopf einzustecken. Ein kurzes Stechen, und die Einwahl beginnt:

      ### Einheit 6.20.233.04, 2.13, Name: Chémo

      ### Zugriffsrechte bestätigt

      ### Verbindung hergestellt

      ### Heutige Schicht bis: 195.8

      ### Zeitkonto: -325

      ### 1 neue Nachricht vom Hauptwerk: Arbeitsplatzwechsel von Nordsektor B, Planquadrat 331.32, nach Südsektor C, Planquadrat 811.47

      ### Zeitkonto wird auf -417 gesetzt

      Kaum habe ich die letzte Zeile biologisch umgesetzt, da höre ich auch schon das Schleifen der Großwalzen, die meinen Container hoch zum Dach befördern; es rumpelt hinter den

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