Erdenkinder. Günter Neuwirth

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Erdenkinder - Günter Neuwirth страница 3

Erdenkinder - Günter Neuwirth

Скачать книгу

Josef blickte einer auffliegenden Kohlmeise hinterher, sah sie im Morgenlicht verschwinden. Er streifte seine Stiefel ab, tat barfuß ein paar Schritte im noch kühlen Gras, dann trat er an den Komposthaufen heran und sog tief dessen Duft ein. Heute, ja, heute würde er die Arbeit beginnen. Ein zufriedenes Lächeln legte sich in sein sonnengebräuntes, gefurchtes Gesicht. Zum Glück hatte er noch die Kraft für diese Arbeit, zum Glück hatte sie ihn rechtzeitig gerettet. Voller Wärme, Zuneigung und Respekt dachte er an jene Frau, die ihn in einer Nacht verzaubert hatte, die ihn mit ihren Tänzen und Gesängen, mit ihren Gebeten, mit ihrer unsäglichen Weisheit und ihrem uferlosen Wissen geheilt und gerettet hatte. Es war nicht lange her, erst ein paar Jahre, aber diese Jahre hatten ihn für über sechzig Jahre Knechtschaft und Unterdrückung entschädigt. Er hatte die Wahrheit erst als alter Witwer kennengelernt, die Schönheit erst im Spätherbst seines Lebens gesehen, aber er war voller Zuversicht und Freude, weil dies doch noch geschehen war. Der Tod hatte nie viel Schrecken auf ihn ausgeübt, und manchmal hatte er sich nichts sehnlicher als den Tod gewünscht, doch nun erst war der Tod eine Würde, die zu erringen er jederzeit dankbar war, denn er hatte das Leben gesehen.

      Heute also würde er den Komposthaufen umstechen, würde er die fruchtbare, lebendige Erde hervorschaufeln, würde er damit die Beete für das Wintergemüse anlegen. Meister Josef griff zur Mistgabel und stieg mit bloßen Füßen und aufgekrempelten Hosenbeinen auf die mannshohe, mehrere Meter lange Kompostmiete. Ja, seit sie ihm den Weg gewiesen hatte, war es ihm ein Leichtes die Natur zu fühlen. Die Energie des Komposthaufens perlte über seine Haut wie ein warmer Schauer im Sommerregen. Er hatte seine Heimat gefunden, und seine Heimat war der Kompost, war die Brutstätte der Natur, war die Quelle des Lebens. Seit die Kompostverwertung produktiv lief, waren die Erträge der Gemüsebeete gut. Niemand mehr in der Siedlung musste im Winter hungern, niemand musste in den Supermarkt laufen und Gemüse zweifelhafter Qualität kaufen, alles, was seine neue Familie benötigte, wuchs auf den Feldern. Seinen Feldern, seinem Grund und seinem Boden.

      Wie hatten die selbstsüchtigen Söhne geflucht, als er sich von der Kräuterhexe hatte verhexen, sich in ihren Bann hatte schlagen lassen, sogar vor Gericht waren sie gezogen. Die Ehefrau hatte die Erziehung ihrer und seiner Söhne gründlich gemeistert. Vierzig Jahre bittere Ehe, zwei erwachsene Söhne, die ihren Vater verachteten, ihn für verrückt hielten und ihn lieber heute als morgen entmündigen und in eine geschlossene Anstalt sperren lassen wollten, eine Dorfgemeinschaft, die sich von ihrem ehemals geachteten, weil tüchtigen Großbauern in Zorn und Unverständnis abgewendet hatte. Der Lehner Pepi ist im Alter durchgedreht, jetzt sind die Narrischen auf seinem Grundstück, jetzt haben wir diese Bande von Strauchdieben am Hals, du bist schuld, du bist schuld, du bist immer wieder schuld, Pepi, sag, schämst du dich nicht auf deine alten Tag!

      Er kannte seine Komposthaufen besser als er jeden Menschen kennen konnte und wollte, er wusste immer genau, wie und wann ein Haufen anzulegen war, welche Zweige, Blätter, Gräser wo und wie aufzuhäufen waren, welche Mengen Tierdung einzuarbeiten waren, wie lange die Haufen reifen mussten, wann der richtige Zeitpunkt war, sie zu öffnen. In ein stummes Gebet versunken, verharrte er fast bis zu den Knien im Kompost steckend, ein Gebet nicht zu dem eitlen Popanz von Gott, den ihm die Großmutter in das Gemüt gedrillt und der Pfarrer mit leeren Floskeln in das Gehirn geleiert hatte, sondern ein Gebet in das helle Licht dieses anhebenden Frühsommertages.

      Dann packte er die Mistgabel und mit spielerischer Leichtigkeit hob er die obere Schicht des Haufens ab, grub sich in den warmen, duftenden Kern des Haufens. Käfer und Ameisen, Pilze und Würmer, der Kreislauf des Lebendigen, mikroskopisch kleine Lebewesen, die er nicht sah, aber deren Anwesenheit er spürte, sie alle umfingen ihn, begrüßten ihn wie einen guten, lang erwarteten Freund. Meister Josef spürte nicht die alten Glieder, den schmerzenden Rücken, immer wenn er einen Haufen öffnete, war er wie in Trance, war er in seinem Element, hatte er seinen Platz im Kosmos gefunden. Er arbeitete hart, Schweiß perlte an seiner Stirn und er summte still vor sich hin. Ja, der Zeitpunkt war genau richtig, die dunkle Erde roch gut, feiner Humus, die Grundlage für bestes Gemüse, für ein gesundes Leben bis ins hohe Alter.

      Nach einer halben Stunde trat Meister Josef einen Schritt zurück, blickte auf die mittlerweile vollständig geöffnete Kompostmiete und wischte den Schweiß in den Ärmel seines Hemdes. Er war zufrieden. Gute Arbeit, jetzt würden er und sein Freund Ernst, der im Lauf des Vormittages mit dem Werkzeug kommen würde, den Humus aufschaufeln, sieben und zu den Beeten bringen können. Danach würde er sich um alles Weitere kümmern. Josef Lehner öffnete die Feldflasche mit dem kalten Kräutertee und nahm einen kräftigen Schluck.

      Er sah den Ort genau vor sich. Eine offene Waldlichtung, fast mannshohes Kraut, schwirrende Bienen, ein bunter Schmetterling zwischen den durch die Baumkronen brechenden Sonnenstrahlen, ein Duft von Sommer und feuchtem Lehmboden. Gelbe Blüten. Und er hatte alles geschluckt. Meister Josef fiel auf die Knie und griff an sein Herz. Der Trank war so stark. Wer konnte solch Elixier zubereiten? Digitalis grandiflora. Fingerhut. Die Wolken zogen über das Firmament, grüne Schäfchen im gelben Himmel. Der Geschmack des Elixiers war so überaus wohltuend, doch das Herz setzte aus. Er hörte seinen Großvater lachen.

      Ich komme, Opa, du hast als einziger mit uns Kindern gelacht, doch nie im Haus, immer nur auf den Feldern oder bei den Obstbäumen, wenn Oma es nicht bemerkte, Opa, ich kann jetzt auch lachen, höre nur, wie ich lache, lache, lache …

      „Das ist, kurz gesagt, eine wasserdichte Prozessdefinition.“

      Er musste urinieren, sich entleeren, schnell. Der Kaffee, der verfluchte Kaffee. Wasser lassen. Dringend.

      Der Mann mit der kahlen Stirn und dem millimeterkurz geschnittenen Haar zupfte an seiner Krawatte, der oberste Hemdknopf war geöffnet, die in feines Tuch gehüllten Beine waren leger übereinander geworfen. Er wischte mit der rechten Hand scheinbar spielerisch über die vor ihm auf dem Konferenztisch liegenden farbig bedruckten Papiere, als ob es in diesem hygienisch gereinigten, vollständig klimatisierten Hightech-Raum noch irgendein Staubkörnchen zu beseitigen gäbe.

      „Das ist ja alles schön und gut, aber …“

      Eine bedeutungsschwere Pause im Diskurs der vier Männer öffnete sich, legte sich wie eine dunkle Aschenwolke in die Atmosphäre, lähmend, bedrückend.

      Wo findest du noch einen Haken, du aufgeblasener Popanz, du Quertreiber, du Kasperl in Managementklamotten, geisterte es durch Robert Wiesers Kopf. Womit willst du mich nach drei Stunden mühsamer Verhandlung, am Rande einer Koffeinvergiftung schrammend, noch aufhalten? Ich will hier raus, fort von dieser Bande ignoranter Blödiane mit goldenen Kugelschreibern und grafiklastigen Besprechungsunterlagen.

      „Aber was?“, fragte Robert schließlich, trat von der Flipchart weg und ließ sich auf seinen Sitzplatz sinken.

      Der Mann mit der Glatze, Magister der Betriebswirtschaftslehre und seit fünf Jahren Supplymanager in diesem halbstaatlichen Energieversorgungsunternehmen, zu dessen Lieferanten Roberts Firma zählen wollte, blätterte scheinbar zielgerichtet in den Unterlagen und war doch ohne jede Orientierung. Oder war es Robert, der die Orientierung verloren hatte? War es Robert, der nicht mehr wusste, was ihn überhaupt hierher geführt hatte? Mit wem er hier überhaupt sprach? Nach all den Jahren in der Firma, nach all den Meetings und Konferenzen, Präsentationen und Projektierungsgesprächen konnte er die einzelnen Gesichter nicht mehr voneinander unterscheiden. Er war ausgelaugt, am Ende, völlig kraftlos und ohne jeglichen Antrieb. Und er musste auf das Klo. Dringend.

      „Ja, das ist es!“, rief der Mann mit Glatze endlich aus. „Ich glaube über den Field Support haben wir noch nicht detailliert genug gesprochen. Da sind noch Punkte offen. Da müssen wir noch nachhaken.“

      Nachhaken? Will er wirklich nachhaken? Der übergewichtige Volltrottel will da tatsächlich noch einmal nachhaken.

Скачать книгу