Erdenkinder. Günter Neuwirth

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Erdenkinder - Günter Neuwirth

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      „Sehr gern, Herr Magister Reicher! Wenn Sie da noch offene Punkte sehen, können wir diese jederzeit thematisieren und alle Fragen eingehend diskutieren. Dafür sind wir ja heute hier zusammengekommen.“

      Ich bin ein Profi, das sagen alle, ich bin seit fünfzehn Jahren ein bewährter Projektmanager, ich habe schon in Konferenzen gesessen, da bist du Schlappschwanz noch auf der Uni den Professoren in den Arsch gekrochen. Okay, in letzter Zeit habe ich ein kleines Motivationsproblem und leide an Schlafstörungen, aber das binde ich dir sicherlich niemals auf die Nase, das sage ich nicht mal meinen Kollegen und schon gar nicht meinem Vorgesetzten. Der im Übrigen drei Jahre jünger ist als ich. Der im Übrigen vor einem halben Jahr den Job als Abteilungsleiter übernommen hat, den ich mir wirklich mehr als verdient habe. Der im Übrigen ein schleimiger Mistkerl ist.

      Es klopfte an die Tür des Konferenzsaals, die Tür ging auf und der Direktor des Kraftwerkes Dürnfeld trat herein. Die vier Männer im Konferenzraum erhoben sich unwillkürlich.

      „Nun, meine Herren, sind Sie mit der Besprechung gut voran gekommen?“, fragte Diplomingenieur Georg Haunold in seinem charakteristischen Tonfall von Höflichkeit, Bestimmtheit und Eloquenz.

      Es gab einen speziellen Typus von Männern, den Robert Wieser respektieren konnte und musste, und der Direktor des Kraftwerkes Georg Haunold war einer von diesen. Das war ein Mann, der mit wenigen Gesten Vertrauen erweckte und mit ein paar Worten Kompetenz vermittelte.

      „Ja, wir liegen gut in der Zeit“, sagte Magister Reicher dienstbeflissen.

      „Das ist prima. Wie angekündigt werde ich mich nach dem Essen an der Besprechung beteiligen, jetzt aber meine Herren, bitte ich Sie, auf die Uhr zu sehen. Es ist zehn Minuten nach zwölf, der Cateringservice hat geliefert, also schlage ich vor, wir kümmern uns nun um das leibliche Wohl und nehmen einen Happen zu uns.“

      Zustimmendes Gemurmel, bejahendes Kopfnicken, rückende Stühle aus eloxiertem Aluminium. Endlich freie Bahn auf die Toilette. Robert erhob sich und versuchte, nicht zu hektisch den Raum zu verlassen. Plötzlich trat jemand in seinen Tunnelblick.

      „Herr Ingenieur Wieser, jetzt mal unter uns, Sie haben sich ja ganz schön ins Zeug gelegt, aber …“

      Robert hörte nicht mehr, was der fette Ignorant sagte, er sah nur noch sich öffnende und schließende fleischige Lippen, roch teures Rasierwasser, verspürte den unbändigen Wunsch, diesem unsympathischen Widerling das Knie mit voller Wucht in den Unterleib zu rammen.

      „Herr Magister, geben Sie mir bitte eine Minute, dann stehe ich Ihnen wieder voll zur Verfügung. Ich muss mal für kleine Buben.“

      „Ach so, ja, natürlich. Den Gang geradeaus und dann links.“

      Mit stechenden Schmerzen eilte Robert los. Warum war er nicht während der Besprechung ausgetreten? Niemand hätte etwas dagegen gehabt. Es ist doch ganz natürlich, und manche Menschen verfügten eben über kleine Blasen, das ist wirklich kein Problem. Warum war er noch niemals während einer laufenden Besprechung ausgetreten? Warum war er noch immer nicht aus seinem idiotischen Leben ausgetreten?

      Christinas Blick glitt immer wieder über die Oberfläche des schnell strömenden Wassers der Enns. Sie atmete tief, regelmäßig, die letzten paar Meter mobilisierte sie noch einmal ihre Kräfte, erhöhte das Tempo, holte zu weiten Laufschritten aus. Die Regenfälle der letzten Woche hatten die Enns anschwellen lassen, weitere ergiebige Güsse und der Fluss würde über die Ufer treten. Sie trat zu einem Schlusssprint an, erreichte das Ziel und stoppte den Lauf. Christina schüttelte ihre Glieder und machte ein paar Dehnungsübungen, ihr Atemrhythmus beruhigte sich, das verlässliche Glücksgefühl nach einem Lauf breitete sich in ihr aus. Das bräunliche, trübe Wasser der Enns vermischte sich mit dem grünlichen Wasser der Steyr, eine Weile schaute sie dem Tosen der ineinander fließenden Flüsse zu. Sie hatte schon als Kind, als sie mit ihren Eltern manchmal eine alte Tante in der Stadt Steyr besucht hatte, diese bestimmendste aller Charakteristiken der Stadt geliebt. Fließendes Wasser hatte immer eine Faszination auf sie ausgeübt, Quellen, Bäche, kleine Flüsse, immerzu hatte sie in ihrer Kindheit bei den Ausflügen mit den Eltern danach gesucht und war kaum vom Spielen an den Ufern wieder wegzubringen gewesen. Und nun wohnte sie in dieser Stadt an der wasserreichen Enns und der kristallklaren Steyr, diesen Flüssen, die in erdgeschichtlicher Verlässlichkeit die Wassermassen aus den Bergen in das Flachland trugen, und die hier, in Sichtweite vom Fenster ihrer Küche, ineinander flossen.

      Christina drehte sich um und trabte gemächlich die Gassen empor, zog den Schlüssel aus der Tasche ihrer Jogginghose und verschwand in dem Neubau, in dessen drittem Stock ihre Wohnung lag. Seit sechs Jahren wohnte sie nahe der Enns, in dieser Zeit war das Haus noch nicht von den wiederkehrenden Hochwassern betroffen gewesen. Drüben in der Altstadt, am anderen Ufer der Enns, liefen immer wieder Keller voll, ihr Keller war bislang trocken geblieben.

      Christina schlüpfte aus den Laufschuhen und der Sportbluse. Die Wohnung war groß, breite Fenster in der Dachschräge öffneten sich dem Licht, die luftigen Zimmer offerierten Wünschen nach Komfort breiten Raum, ihr Mann hatte ihr bei der Einrichtung alle Freiheiten gewährt, hätte keine Kosten und Mühen gescheut, doch sie hatte sich für weiße Wände und schlichte Möbel aus hellem Ahorn- und Fichtenholz entschieden.

      Christina hob den kleinen Zettel vom Wohnzimmertisch und las die zwei Zeilen, die Wilhelm in seiner krakeligen, immer etwas hastig gesetzten Schrift hinterlassen hatte. Sie lächelte und legte den Zettel wieder auf den Tisch. Christina entledigte sich nun auch der Hose und stieg in die Dusche. Wie zuvor besprochen war Wilhelm aufgebrochen, als sie beim Laufen gewesen war. Er würde wieder einmal eine Woche unterwegs sein, zuerst geschäftliche Termine in Deutschland und danach in Dänemark wahrnehmen, würde versuchen, für sein Unternehmen neue Aufträge an Land zu ziehen und er würde gewiss wieder erfolgreich sein. Wilhelms Firma war in den letzten Jahren zwar langsam, aber beständig gewachsen. Sie hatte einen ebenso kultivierten, wie wohlhabenden Mann geheiratet. Und er hatte sie nie vereinnahmen wollen, hatte ihr ganz selbstverständlich Freiheiten gewährt, hatte sie nie bedrängt, ihren Beruf aufzugeben und in seine Firma einzusteigen. Verlässlichkeit und Freiheit, das waren bislang die tragenden Säulen ihrer nunmehr seit sechs Jahren bestehenden Ehe gewesen. Es gab keinen Grund zur Annahme, dass sich dies in Zukunft ändern würde. Wilhelm hatte einen jugendlichen Sohn aus seiner ersten Ehe, mit dem er sich ausgezeichnet verstand. Christinas Mann war nicht unbedingt ein graumelierter Beau, aber er war schlank und für seine einundfünfzig Jahre sehr sportlich. Beim Sport hatten sie sich auch kennengelernt. Sich an einen um vierzehn Jahre älteren Mann zu binden, der seine Sturm-und-Drang-Jahre hinter sich hatte, brachte in Christinas Augen gewisse Vorteile.

      Nach der Dusche wählte Christina die Kleidung für den Arbeitstag, der für sie heute erst am frühen Nachmittag beginnen würde. Bedächtig tippte sie die Geheimnummer in den Wandtresor, die Riegel öffneten sich klackend, sie zog die Tür auf und entnahm die Pistole. Mit geübten Griffen kontrollierte sie die Ladung und Sicherung der Waffe und steckte sie schließlich in das Hüfthalfter. Eine bequeme Sommerjacke verdeckte Waffe und Halfter.

      Christina blickte auf die Anzeige ihres Handys. Ein wenig Zeit bis zum Dienstantritt blieb noch, sie würde also in der Orangerie im Schlosspark noch eine Tasse Kaffee nehmen können. Das Wetter sprach unbedingt dafür.

      Robert Wieser stand vor dem Waschbecken und starrte auf sein Spiegelbild. Sein Haar an der Schläfe zeigte mittlerweile einen erkennbar grauen Ton. Vor ein paar Jahren war der Scheitel etwas schütter geworden, Robert konnte sich noch genau an die aufsteigende Panik erinnern. Aber der Haarausfall war nicht vorangeschritten, der Scheitel war etwas dünner

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