Erdenkinder. Günter Neuwirth

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Erdenkinder - Günter Neuwirth

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wenn du etwas unternehmen willst, dann bleib hier am Zaun als sichtbares Mahnmal gegen die Umweltzerstörung stehen. In drei Stunden komme ich wieder und bringe euch zum Abendessen in die Siedlung.“

      Meinrad zwinkerte den beiden jungen Frauen zu und stapfte davon. Seine Mutter hatte schon vor drei Jahren gesagt, er wäre frühreif, und zum Glück hatte er die kräftige Konstitution seines Vaters geerbt. Das Leben konnte ein Vergnügen sein, vor allem wenn man verstand, sich einen Jux zu machen.

      Das Donnern verdichtete sich. Vielleicht würde es nicht mal eine halbe Stunde dauern. Meinrad beschleunigte seinen Schritt.

      Wenn die Müdigkeit das Einzige ist, was einen wach hält, wird jedes Gespräch zu einer Tortur, wird jede gesellschaftskonforme Höflichkeit zu einer Höllenqual, wird jedes zwischenmenschliche Wort zu einem Peitschenschlag auf den nackten Rücken.

      „ … muss ich wirklich sagen, dass wir durch die klare Abgrenzung von Verantwortungsbereichen im Projektmanagement eine sehr solide Basis für die Meilensteine der Abwicklung gefunden haben. Also, ich bin zuversichtlich, dass der Verlauf eine positive Richtung nimmt. Und was unsere Software leistet, habe ich Ihnen demonstriert, Ihre Workflows werden damit effizient unterstützt, so dass …“

      Worthülsen, die aus irgendeinem Repertoire gezogen und in beliebiger Form repliziert wurden. In einer Verfassung wie seiner war es gleichsam die einzige Überlebensmöglichkeit auf solche Repertoires zurückgreifen zu können. Robert Wieser hatte keine Ahnung, wie lange sich die Abschiedsprozedur nun schon hinzog. Am Nachmittag war die Gesprächsrunde geschrumpft, der Direktor und sein Stellvertreter hatten sich nach einer Stunde, wie sie formuliert hatten, aus dem Meeting ausgeklinkt, und Robert war mit dem Supplymanager und dessen Mitarbeiter im Konferenzraum verblieben, um die letzten offenen Punkte zu besprechen.

      Die drei Männer in Anzügen standen beieinander, sie hatten ihre Unterlagen schon eingepackt, hielten ihre Taschen reisebereit in den Händen, wollten alle schon den kurzen Feierabend antreten und kauten doch noch immer Themen durch, die an diesem langen Arbeitstag schon mehrfach abgehandelt worden waren. Erst als der Supplymanager des Kohlekraftwerks Dürnfeld unmissverständlich auf seine Uhr blickte, war das Signal zum Aufbruch gegeben. Robert räusperte sich, seine Stimmbänder waren von der endlosen Diskussion angegriffen, und er reichte dem Mann die Hand.

      „Also, auf Wiedersehen, Herr …“

      Panik flammte auf. Da war er von neun Uhr morgens bis halb sechs Uhr abends mit dem Mann beisammen gesessen und hatte geredet und geredet, und jetzt war ihm der Name plötzlich entfallen. Robert versuchte sich nichts anmerken zu lassen.

      „ … Herr Magister.“

      „Auf Wiedersehen, Herr Ingenieur.“

      Robert reichte auch dem erschöpft wirkenden Mitarbeiter des Supplymanagers die Hand. Die drei Männer verließen den Konferenzraum, die beiden Mitarbeiter des Kraftwerkes begleiteten Robert bis vor die Tür auf den Parkplatz. Robert schnappte nach Luft. Es war angenehm warm, aber die Luftfeuchtigkeit war außerordentlich hoch. Wasserpfützen standen auf dem Parkplatz.

      „Na, Gott sei Dank hat der Regen wieder aufgehört“, sagte Magister Reicher.

      Robert war irritiert. Hatte es geregnet? Er wusste es nicht, er hatte es gar nicht bemerkt, er war viel zu sehr beschäftigt gewesen, seine Vitalfunktionen mit Routine und Verbissenheit aufrecht zu erhalten.

      „Bei dem Regenguss werden unsere Ökofuzzis ganz schön geduscht worden sein“, witzelte Reicher, woraufhin sein Mitarbeiter ein bemühtes und doch irgendwie schadenfreudiges Lächeln aufsetzte.

      Robert verstand gar nichts. Hatte er irgendetwas im Gespräch verpasst? Was meinte der Mann mit Ökofuzzis? Reicher interpretierte Roberts Miene offenbar richtig, denn er zeigte hinüber zu den Wiesen und Feldern.

      „Dort stehen sie, unerschütterlich auch im Regen. Tja, Kohle dürfen wir nicht verheizen, aber der Strom soll schon aus der Steckdose kommen.“ Jetzt lachte auch Robert, denn er konnte sich dunkel erinnern, dass heute früh, als er mit dem Auto auf das Kraftwerk zugefahren war, ein paar verirrte Leute mit Stopp-dem-Klimawandel-Transparenten neben der Straße gestanden hatten.

      „Na, dann wünsche ich noch eine gute Fahrt“, sagte Magister Reicher und reichte Robert erneut die Hand. Hörte das denn niemals auf?

      Nach weiteren unendlichen Mühen gelang es Robert die Sicherheitskontrollen hinter sich zu lassen und mit dem Auto langsam über die Landstraße zu fahren. Er öffnete die Fenster und schnappte nach der hereinströmenden Luft. Ein Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass er das Kraftwerksareal wirklich hinter sich gelassen hatte. Robert lenkte den Wagen, ohne tatsächlich auf den Straßenverlauf zu achten, aber mit untrüglicher Routine auf den Wald zu. Sein Tempo war höchstens gemächlich, auf der Autobahn würde er den Wagen schon noch laufen lassen. Robert hatte Kopfschmerzen, sein Hals kratzte, ihm war übel und doch war er erleichtert. Das Geschäft war unter Dach und Fach, er hatte sich wieder einmal über die Ziellinie gerettet. Wie oft noch? Wie lange noch?

      Meinrad geisterte durch den Wald, darauf achtend, nicht über Wurzeln oder herumliegende Äste zu stolpern. Ihm war schwindelig, alles drehte und bewegte sich in seinem Kopf. Das Zeug haue richtig rein, war ihm versichert worden, das sei kein gestreckter Biomüll, das sei erstklassiges, unverschnittenes Gras, das sei Natur pur. Die Neuankömmlinge aus München waren tatsächlich für einige Überraschungen gut, zuerst die hübschen Studentinnen und dann noch die zwei langhaarigen Hanfzüchter. Achim und Bernhard, zwei urbane Tagediebe, deren literaturwissenschaftliche Studien sich insbesondere und, wie sie versicherten, mit zunehmender Ausschließlichkeit auf Handbücher über Hanfpflanzungen in geschlossenen Räumen erstreckten. Auf vierzig Quadratmetern im Dachgeschoss eines alten Zinshauses in München, das Achims Tante gehörte, hatten sie einen Marihuanagarten mit Lampen und Heizstrahlern eingerichtet, so dass sie nicht mehr von illegalen Importen abhängig waren. Die beiden hatten während des Regengusses in ihrem Zelt einen dicken Joint gedreht und Meinrad davon abgegeben. Meinrad hatte zwar schon einmal an einem Joint gezogen, aber davon war ihm damals augenblicklich schlecht geworden, so dass er keine große Lust verspürt hatte, der Einladung der zwei vermeintlichen Weltverbesserer zu folgen. Erst nach einiger Überredung hatte er doch an dem ihm unter die Nase gehaltenen Joint gezogen und nun taumelte er, nachdem die erste Welle von Übelkeit überwunden war, total high durch den Wald.

      Ihm war klar, dass er die beiden Kerle in den nächsten Tagen meiden würde wie der Teufel den Weihrauch. Da hielt er sich schon lieber an die Vergnügungen, die ihm die feschen Studentinnen zu bieten versprachen. Er beeilte sich, denn der Regen war längst vorbei, langsam brach der Abend an und in der Siedlung wurde schon in einem großen Kessel über offenem Feuer die allabendliche Suppe gekocht. Er hatte versprochen die beiden beim Zaun abzuholen, und er war spät dran. Meinrad kämpfte sich durch den wankenden Wald, bemüht, sich von den überall auftauchenden absurden kleinen Waldkobolden und ihrem schalkhaften Gekicher nicht aufhalten zu lassen. Das Zeug haute wirklich rein.

      Robert beugte sich nach vorn und öffnete das Handschuhfach. Darin befanden sich eine Menge CDs und er suchte nach der passenden Geräuschkulisse für die nächsten zwei Stunden Autofahrt. Er hielt seinen Musikgeschmack für nicht besonders erlesen, er hörte so ziemlich alles, was gerade irgendwie modern war, am liebsten waren ihm aber die alten Schlager aus seiner Jugendzeit, die flotten Popsongs der Achtzigerjahre, als die Welt noch spannend, die Musik tanzbar und das Leben noch voller Überraschungen war. Robert ächzte. Wo war die CD von

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