Erdenkinder. Günter Neuwirth
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Robert ließ sich vom Gelächter des jungen Mannes anstecken und lauschte seiner Erzählung durchaus interessiert.
„Ich will Manager werden, will eine todschicke Armbanduhr und einen Laptop, habe ich meinen Eltern gesagt. Sie haben zwar gemeckert, mir aber trotzdem so viel Geld vorgeschossen, dass ich einen Anzug kaufen und ein kleines Zimmer in Linz mieten konnte. Tatsächlich habe ich einen Job in einer großen Druckerei gekriegt. Die erste Woche war total toll. Habe jeden Tag vier Tassen Kaffee getrunken, habe täglich zwei, drei Überstunden gemacht, habe alle Arbeiten im Blitztempo erledigt. Mein Vorgesetzter hat mich sogar schon zu bremsen versucht, aber keine Chance, schließlich habe ich mir ja ausgerechnet gehabt, nach vier oder fünf Wochen in der Firma ein Manager zu sein. Aber nach zwei Wochen habe ich mir gedacht, dass mein Chef draufgekommen ist, dass ich in Ökokommunen aufgewachsen bin, und dass er mir deshalb die blödesten, langweiligsten und sinnlosesten Arbeiten zuschanzt. Nach drei Wochen habe ich bemerkt, dass das gar nicht wahr ist, sondern, dass alle in der Firma so blöde, langweilige und sinnlose Arbeiten verrichten. Und als ich dann verstanden habe, dass ich die nächsten vierzig Jahre so blöde, langweilige und sinnlose Arbeiten verrichten muss, habe ich gekündigt, meinen Eltern das ausgeborgte Geld zurückgegeben und bin dann zwei Monate mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Das war lässig, das hat Spaß gemacht. Die zwei Monate waren eine total gute Zeit.“
„Du hast Zeugnisse gefälscht? Wieso denn das?“, fragte Robert mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich habe ja keine richtigen Schulzeugnisse. Ich habe die Pflichtschulreife. Wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, habe ich immer die nötigen Prüfungen gemacht, aber unterrichtet wurde ich von meinen Eltern und anderen in der Kommune, vor allem von Gebhardt. Du kannst mir glauben, meine Mutter hat ja Mathe studiert, die behördlichen Prüfungen zum Nachweis meines Bildungsfortschrittes waren für mich ein Klacks. Für alle Kinder in der Kommune sind diese Prüfungen höchstens Aufwärmübungen. In der Schule lernt man ja in Wahrheit nicht Mathe oder Geschichte oder Englisch, sondern man lernt zu gehorchen, still zu sitzen, keine Fragen zu stellen, man lernt ein Affe im System zu sein. Ich habe in einem Baumhaus mit den Kumpels Wurzelziehen gelernt und bei der Arbeit im Gemüsegarten hat mir Senta die Geschichte der griechischen Antike erzählt. Ich weiß bis heute noch jede Einzelheit. Wer war der Begründer der systematischen Naturwissenschaften? Hm, weißt du das noch aus deiner Schulzeit?“
Robert dachte nach und schüttelte verneinend den Kopf.
„Aristoteles. Obwohl der ja eigentlich ein Philosoph war. Aber in der Antike gab es diese Differenzierung der Wissenschaften nicht so wie heute. Verstehst du, solche Dinge werde ich mir bis an mein Lebensende merken.“
Robert blickte auf seine Armbanduhr. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu, es wurde Zeit aufzubrechen, denn er hatte noch zwei Stunden im Auto vor sich. Und morgen wartete ein weiterer Tag im Büro, schließlich musste er die Themen des heutigen Workshops dokumentieren.
„Du stehst auf Angelika, nicht wahr?“
Die Frage traf Robert wie ein Faustschlag.
„Äh, wie kommst du da drauf?“, entgegnete er verdattert.
„Na ja, das war schwerlich zu übersehen. Kein Stress, ist eh nicht peinlich. Alle stehen auf Angelika, sie ist die fescheste Frau von hier bis nach Kentucky und retour.“
Meinrad trat ganz nahe an Robert heran und flüsterte verschwörerisch.
„Willst du sie nackt sehen?“
Robert trat unangenehm berührt einen Schritt nach hinten, fort von diesem merkwürdigen Jugendlichen. Meinrad nickte geheimnisvoll in Richtung Wald.
„Schau mal, Angelika, Sabine und Estelle gehen zum Bach. Wir haben da hinten im Wald unser Badezimmer. Open Air natürlich, bei uns ist fast alles Open Air. Die drei gehen oft gemeinsam zum Baden. Ich habe mir schon vor längerer Zeit ein Versteck in einem Baum eingerichtet. Super Blick auf den Badeplatz. Früher bin ich oft mit Severin dort gewesen. Zum Onanieren. Keiner außer Severin weiß davon. Absolut diskret.“
Robert sah, wie drei junge Frauen im Wald verschwanden, eine von ihnen erkannte er selbst aus der Ferne an den fließenden Bewegungen und an ihrer Kleidung als Angelika. Eine überwältigende Begierde brach in Robert hervor, eine jede rationale Erwägung und verkorkste Scham hinwegschwemmende Flut. Er kämpfte dagegen an, er sträubte sich, er fühlte sich blamiert vor diesem siebzehnjährigen Burschen, doch die Aussicht, diese Göttin beim Baden beobachten zu können, rang alle Hindernisse nieder. Er starrte Meinrad an. Dieser feixte Robert an.
„Dann los. Wir müssen vorsichtig sein, damit uns niemand sieht. Folge mir.“ Die beiden huschten ins Dickicht. Robert mühte sich, an Meinrad dranzubleiben. Wie unpassend er gekleidet war, ein Businessanzug und schwarze Lederschuhe passten einfach nicht zu einem Lauf durch den Wald. Sie schlugen einige Haken, vergewisserten sich, dass ihnen niemand folgte und sie auch von niemandem gesehen wurden. Schließlich kamen sie in ein lichtes Waldstück mit alten, wuchtigen Rotbuchen.
„Da müssen wir hinauf.“
Meinrad kletterte behände auf die unteren Äste des Baumes und ließ ein Seil hinab.
„Mit dem Seil schaffst du das bestimmt. Wir müssen hoch hinauf.“ Robert trat von einem Bein auf das andere. Sollte er da wirklich auf einen Baum hinaufklettern, um drei junge Frauen wie ein perverser Spanner zu begaffen? Die Situation war grotesk und peinlich. Er blickte sich um. Was tat er hier bloß? Das war doch nicht normal, im Gegenteil, das war hochgradig befremdlich. Dann dachte er an den zu erwartenden Verlauf des Abends bei sich zuhause, an seine zänkischen Kinder, an seine egoistische Frau, an den immerzu dahin plätschernden Fernseher, an die Zahnseide und Nagelschere, an den leeren Tank seines Autos, der morgen früh auf dem Weg zur Arbeit wieder gefüllt werden musste. Er schlüpfte aus dem Jackett und griff nach dem Seil.
„Beil dich, sie sind schon da“, flüsterte Meinrad und half Robert auf das Sitzbrett, welches in luftiger Höhe zwischen zwei starken Ästen eingeklemmt war. Meinrad drückte Robert ein Fernglas in die Hand, das dieser schwer atmend und sich mit der rechten Hand respektvoll an einen Ast klammernd annahm.
„Du musst da zwischen den Blättern durchschauen. Durch diese Lücke. Geradeaus. Mach schon, du wirst es nicht bereuen. Severin hat gesagt, das ist unsere Öko-Peepshow. Na ja, er denkt sich immer solche komischen Sprüche aus.“
Robert konnte es nicht begreifen, es war einfach unglaublich, es war irgendwie irreal. Konnte die Natur es mit einem Menschen so gut meinen? Er sah die drei jungen Frauen, die splitternackt im Bach standen, tratschten, lachten, ihr Haar wuschen. Die beiden anderen Frauen waren jung, schlank, nett anzusehen, aber Angelikas Erscheinung überstrahlte alles. Jede Rundung, jede Wölbung, jeder Muskel und die gesamte Oberfläche ihrer Haut waren von einer Schönheit, die in natura zu sehen, Robert nie zu erwarten oder erhoffen gewagt hätte.
„Du meine Güte …“, entfuhr es ihm flüsternd.
„Sie ist eine Königin, nicht wahr?“
Er konnte seinen Blick gar nicht