Erdenkinder. Günter Neuwirth

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Erdenkinder - Günter Neuwirth

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Zelte standen und einem lichten Waldstück, an dessen Rand sich eine Zahl von seltsamen Holzhütten befand.

      „Das ist Hoffnung, das Dorf, in dem ich seit drei Jahren wohne. Da vorn kannst du anhalten. Du kannst mit diesem Auto nicht bis in das Dorf rein.“

      „Hoffnung? Das Dorf heißt Hoffnung?“

      „Ja, Hoffnung, so wie hoffen mit ung, halt ein Hauptwort. Ich weiß gar nicht, wer von den Alten sich das ausgedacht hat, aber der Name hält sich hartnäckig.“

      Robert hielt den Wagen an und stieg langsam aus. So etwas hatte er noch nie gesehen. Ein wilder Campingplatz und ein Jurtendorf, das war also diese Ökokommune, von der seine Kollegen in der Firmencafeteria gesprochen hatten, als er ihnen von seinem Auftrag berichtet hatte, im Kraftwerk Dürnfeld einen Workshop abzuhalten. Offenbar hatte es über dieses Dorf einmal einen Bericht im Fernsehen gegeben, den Robert, wie so vieles, was im Fernsehen lief, aus mangelndem Interesse an den immer gleichen lästigen Bildern nicht mitbekommen hatte. Einige Leute kamen auf den Wagen zu. Robert fühlte sich mit einem Mal restlos deplatziert, vollkommen overdressed und von einer Reihe missliebiger Blicke umlagert. Wallende Rauschebärte, wirres Hexenhaar, Kleidung, die aussah, als wäre sie beim Flohmarkt in einer maoistischen Kolchose übrig geblieben, und er stand da mitten im noch regennassen Gras in einem Businessanzug.

      „Meinrad! Was ist dir passiert?“, rief eine Frau mittleren Alters, lief auf den Jugendlichen zu, nahm seinen Kopf in ihre Hände und inspizierte die Schramme im Gesicht.

      „Kein Stress, Mama, das ist nur ein Kratzer. Aber vielleicht sollte Gebhardt mal mein Knie anschauen.“

      Die rund zehn Personen umringten Meinrad und starrten auf das zerschrammte Knie.

      „Kann man dich nicht einmal eine Stunde unbeaufsichtigt lassen?“, keifte Gerlinde Riemenschmied ihren Sohn an. „Wo hast du dich schon wieder herumgetrieben? Die Wunden müssen gesäubert werden, und auf dem Knie brauchst du einen Verband. Komm mit, ich gebe dir Arnikatropfen.“ Die Frau mit den hellwachen blauen Augen schaute Robert über die Motorhaube des Autos hinweg an. Ihr Blick war voller Wärme.

      „Vielen Dank, dass Sie meinen Sohn hergebracht haben, das war sehr freundlich von Ihnen. Darf ich Ihnen etwas anbieten, Tee vielleicht oder Gemüsesuppe?“

      Robert war irritiert, weil plötzlich alle zehn Personen der Gruppe ihn freundlich anlächelten.

      „Äh, nein, danke, ich meine …“

      „Na, kommen Sie schon, eine Tasse Tee, frisch aufgebrüht, und ein paar Dinkelkekse. Oder haben Sie es eilig?“

      „Also, eilig nicht, aber ich wollte Ihren Sohn zu einem Arzt bringen. Es ist so, dass ich …“

      „Apropos Arzt“, unterbrach Gerlinde Robert. „Da kommt unser Arzt schon.“

      Robert folgte den Blicken der Einheimischen. Ein langer, dürrer Mann mit weitgehend grauem Haar, das er zu einem langen Zopf geflochten trug, und eine junge Frau eilten auf sie zu. Roberts Mund klappte für einen Moment auf, er vergaß zu atmen, er vergaß die Zeit und den Raum, die unüberbrückbaren Hürden und Hindernisse, die den Menschen im Leben immerzu entgegen stehen. Sein Puls rumorte. Diese junge Frau, konnte sie wahrhaftig da auf ihn zukommen, setzte sie wirklich ihre Schritte so, wie es den Augenschein hatte, irrte er sich, träumte er mit wachem Auge, oder war sie Wirklichkeit? Robert gaffte sprachlos. Diese junge Frau ging nicht, sie schwebte, in geschmeidigen Bewegungen setzte sie ihre Schritte barfuß in das Gras. Der Mann, den alle Gebhardt nannten, sah sich die Wunden von Meinrad an, nickte, beruhigte alle, das seien nur Kratzer, man müsse nur achten, dass die Wunden sich nicht entzündeten, er und Angelika würden sich um alles kümmern.

      Angelika.

      Der Name echote in Roberts Gehör wie der Lockruf einer Quellnymphe in einer im Wald verborgenen Bachklause. Sie war also kein Traumbild, keine Vision seiner verwirrten und seit Jahren ungestillten Sehnsüchte, sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie war nicht attraktiv, nein, ein triviales Wort wie attraktiv bemaß die Erscheinung dieser Frau gar nicht, sie war ein Wunder.

      „Also, kommen Sie doch. Ich schenke Ihnen Tee ein. Machen Sie mir die Freude, seien Sie unser Gast“, sagte Gerlinde Riemenschmied und hakte sich bei Robert ein. Er leistete keinen Widerstand mehr. Er folgte dem merkwürdigen Arzt, dem Jugendlichen und Angelika. Sie traten in eine der außen mit Lehm verputzten Jurten. Der Raum war behaglich, eine aus Steinen gemauerte Feuerstelle, ein altertümlicher Geschirrschrank, eine große Küchentruhe, an der Decke hingen in dichten Trauben Bündel getrockneter Kräuter, ein paar Regale mit sich über und über türmenden Bücherstapeln, ein Teppich in der Mitte des Dielenbodens, ein breiter Tisch und eine Schlafnische im hinteren Teil der Jurte.

      „Meinrad, du setzt dich da her. Angelika, bringst du den Zwetschkenbrand“, sagte der Arzt, blickte sodann Robert an und wies auf den Teppich. „Sie können hier Platz nehmen. Ich habe Rossminzetee. Gerlinde, du kannst für uns alle etwas einschenken.“

      Die Frau mittleren Alters nahm fünf irdene Schalen aus einem Regal und füllte sie mit dem dampfenden Tee, der auf dem Rost der Feuerstelle stand. Ein Geruch von verbranntem Holz, getrockneten Kräutern und ätherischen Ölen lag in der Luft, eine Geruchsmischung, die für Robert so vollständig unbekannt und überraschend war, dass er nahezu berauscht davon wurde. Er zögerte noch, aber da sich alle völlig selbstverständlich auf den Boden setzten, setzte er sich auch. Er inspizierte den Teppich. Ob er sich mit seinem guten Anzug überhaupt dahin setzen sollte? Aber der Teppich schien, so weit die bescheidenen Sichtverhältnisse im Halbdunkel des Raumes einen solchen Befund zuließen, sauber zu sein.

      „Also, wie ist das passiert?“, fragte Gerlinde, als sie ihrem Sohn eine Teetasse reichte.

      Meinrad schlüpfte aus seiner zerrissenen Hose und stellte sein Knie hoch, damit der Arzt es behandeln konnte. Gebhardt träufelte den hochprozentigen Schnaps auf einen Streifen rohweißen Leinen und strich über die Wunde. Meinrad johlte.

      „Willst du einen Lederstreifen zum Draufbeißen?“, fragte Gebhardt. „Geht schon, am Anfang brennt es halt.“

      Robert starrte ohne Unterlass auf Angelika, die sich neben Gebhardt zu Boden gekniet hatte und dessen Handgriffe genau beobachtete. Robert hoffte, sein Gaffen würde nicht zu sehr auffallen, aber scheinbar nahm niemand davon Notiz. Auch, oder vor allem Angelika nicht. Alles an diesem Gesicht war schön, die vollen, leicht geschürzten Lippen, die Nasenlinie, die Backenknochen, die hohe Stirn, das in dichten Locken über ihre Schultern fließende rotbraune Haar und vor allem ihre tiefgründigen, von Vitalität und Impulsivität funkelnden grünen Augen. Was für eine unglaublich schöne Frau. Hatte er je eine schönere Frau gesehen?

      „Da sind ein paar kleine Steinchen unter der Haut. Soll ich sie rauszupfen?“, fragte Angelika und deutete auf das Schienbein knapp unter dem Knie.

      Was für eine Stimme! Robert schnappte nach Luft. Ein rauchiger Alt, verführerisch im ersten Hauch, erotisch in jeder Silbe. Robert versuchte die Kontur ihres Körpers zu erahnen, stellte sich ihren Duft im Morgenlicht nach einer durchliebten Nacht vor. Er war erregt, und wie.

      „Ja, hab ich schon gesehen. Die Pinzette ist in meiner Tasche“, sagte Gebhardt und zeigte kurz auf eine antiquiert aussehende Arzttasche. Angelika öffnete die Tasche, entnahm die Pinzette und kniete sich erneut vor das Knie des Patienten. Bemüht, jeden Handgriff richtig zu setzen und die Wunden von den Steinen zu befreien, ohne Meinrad Schmerzen zuzufügen, machte sie sich an die Arbeit. Sie warf ihr Haar in den Nacken, strich kurz über die das verletzte Knie und setzte die Pinzette an. Robert klagte in sich hinein, warum saß

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