Erdenkinder. Günter Neuwirth
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„Touristen?“, fragte Ernst und stellte den Teller ab.
„Es ist Sommer, da trauen sie sich aus ihren Bobowohnungen heraus und spielen ein bisschen Rettung der Welt“, sagte Gerlinde mit ironischem Unterton zu ihrem Mann. „Wir haben sie gefüttert und zum Kraftwerk geschickt. Dort sollen sie erstmal ihr ökologisches Mütchen kühlen.“
Der breite Korpus des massigen Mannes wogte beim Lachen. Die Frauen stimmten in das Lachen ein. Wenn Ernst Riemenschmied lachte, dann musste man wohl oder übel mitlachen, und er lachte gerne und oft. Er kratzte seinen Bauch und leckte ein paar Eintopfreste aus seinem Bart.
„Schauen wir mal, ob sie beim Zaun bleiben, wenn es regnet.“
Es war ein beliebtes und bewährtes Spiel der Erdenkinder, den oft jugendlichen und zumeist urbanen Sympathisanten, die in den Sommermonaten mit ihren Rucksäcken voller idealistischer Ökofantasien zu ihnen kamen, die Wache am Zaun vor dem Kraftwerk dann zu übertragen, wenn das Wetter umschlug und sie im Regen ausharren mussten. So trennte man schnell die Spreu vom Weizen, die großstadtneurotischen Widerstandstouristen von den echten Aktivisten.
„Meinrad hat sie hinüber geführt“, ergänzte Gerlinde.
Das Lächeln in Ernsts Gesicht verschwand mit einem Mal, seine Stirn verfinsterte sich, er verschränkte seine muskulösen Arme.
„Ich hoffe, du hast unserem werten Herrn Sohnemann ausgerichtet, dass er es nicht wieder so bunt treiben darf.“
„Keine Sorge“, warf Senta Wegscheider mit sanfter und doch bestimmter Stimme ein. „Der Meinrad ist und bleibt ein Pfiffikus, aber er weiß, wie weit er gehen kann.“
„Dein Wort in Gaias Ohr“, brummte Ernst, erhob sich und wandte sich zum Gehen.
„Zeit für ein Mittagsschläfchen?“, fragte Gerlinde süffisant.
Mit der Liebenswürdigkeit eines etwas zu groß und zu schwer geratenen Teddybären zwinkerte er zustimmend seiner Frau Gerlinde und seiner langjährigen Freundin Senta zu und verschwand in der Jurte.
6
Der Vorteil lag klar auf der Hand, der Sommer würde wohl noch die eine oder andere liebsame Überraschung mit sich bringen. Zwei davon standen ihm gegenüber. Meinrads Miene war von der Ernsthaftigkeit des Auftrages, von der Last der Verantwortung und der Notwendigkeit des konkreten Handelns erfüllt. Die zwei Münchner Studentinnen, die er mit einiger Mühe aus der Gruppe der Neuzugänge herausgefiltert hatte, blickten ihn neugierig geworden an. Ja, sie waren Anfang zwanzig, ja, sie studierten in der Großstadt, waren weltgewandt und dachten systemkritisch, zweifellos waren sie schon mit Sandalen und Rucksack quer durch Australien getrampt, hatten gewiss schon eine erkleckliche Zahl an Dinkelmehlkeksen bei Ökopartys zu sich genommen, und er war erst siebzehn, lebte bei den Hinterwäldlern auf dem Land und war von den beiden anfangs gar nicht wirklich wahrgenommen worden, aber das hier war sein Territorium, das hier war sein Spiel. Meinrad zeigte mit verkniffenen Augen in die Ferne.
„Dort drüben ist die Bahnlinie. Die polnische Steinkohle kommt mit dem Zug. Meistens sind es Güterzüge mit eintausend Tonnen Kohle, manchmal liefern sie auch mehr. Das Steinkohlelager ist überdacht und seit wir hier sind, haben sie auch Seitenwände an der Halle. Damit wir die Kohleberge von hier aus nicht sehen können. Das Kraftwerk hat die Luken dicht gemacht, die lassen sich nicht mehr in die Karten schauen. Als wir unsere Siedlung aufgebaut haben, haben sie nur einen Zaun gehabt, drei Meter Maschendraht. Ein Klacks, da drüberzuklettern. Ich habe öfter mal mit meinen Kumpels eine Kohlepartie gemacht. War geil. Echt.“
Die beiden Studentinnen schauten ihren jungen Reiseführer fragend an.
„Was hast du gemacht?“, fragte Annegrit, eine hübsche Blondine aus Niederbayern, die in München Psychologie oder etwas Ähnliches studierte. Meinrads Blick strich über ihren Hals und er malte sich aus, ihr einen Knutschfleck auf die Haut ihres linken Nackenmuskels zu machen.
„Eine Kohlepartie? Kennst du nicht? Na klar, du bist ja neu. Pass auf, das geht so. Man steigt in der Nacht über den Zaun und klettert auf einen Kohleberg. Und dann geht’s voll runter, runterlaufen, springen, Purzelbäume schlagen. Man braucht natürlich feste Schuhe und am besten eine Lederjacke. Voll geil. Du löst dabei laufend kleine Lawinen aus, die lose aufgehäufte Kohle verstreut sich weit und breit. Ist zwar staubig und man kriegt eine Kohlelunge, macht aber Spaß. Am nächsten Tag haben die Arbeiter dann den Schlamassel, weil bei einer echten Kohlepartie schon mal die eine oder andere Tonne Kohle abrutschen und dann in der Gegend herumliegen kann. Aber das geht jetzt nicht mehr. Drei Mal haben wir es gemacht, da war pausenlos die Polizei bei uns in der Siedlung, die Alten haben nur Probleme gemacht, und so. Wie ihr seht, haben sie jetzt rund um das Kraftwerk zweifachen, sieben Meter hohen Drahtzaun gezogen, Stacheldraht obenauf und Stromfallen. Außerdem gibt es jetzt drei Dutzend Videokameras, Selbstschussautomaten und einen Maschinengewehrstand.“
Die beiden Studentinnen starrten Meinrad erschrocken an. Er erwiderte für einen Moment ihren Blick, ernst und sich der Gefährlichkeit ihrer Arbeit hier voll bewusst, dann lachte er lauthals und umarmte die beiden jungen Frauen. Sie fühlten sich gut an, schlank, gut gebaut und von ihrer Mission überzeugt.
„Nein, entschuldigt, das mit den Selbstschussautomaten und dem Maschinengewehr war geflunkert, das wäre ja gar nicht möglich. Wir leben ja in einem Rechtsstaat. Ein paar Leute von Dürnfeld würden uns am liebsten massakrieren, aber die Direktion des Kraftwerks verhält sich eigentlich anständig. Am Anfang gab es da massive Probleme mit Schlägertrupps, einmal haben sie sogar in der Jurtensiedlung Feuer gelegt und so Scheiß, aber seit der neue Direktor im Amt ist, hat das aufgehört. Seit einem Jahr gibt’s eigentlich kaum mehr Zusammenstöße, wir machen unseren gewaltfreien Protest gegen den Klimawandel und sie verheizen weiter in aller Ruhe die polnische Steinkohle. Und wenn sich ein paar Heißsporne auf die Schienen ketten, um die Züge aufzuhalten, kommen die Arbeiter mit einer Kiste Bier und Grillwürsten, schneiden die Leute von den Schienen und tragen sie von den Gleisen fort. Dann wird gemeinsam gegrillt und getrunken und ein paar hundert Tonnen Kohle fahren ins Areal. Der Direktor hat für seine Strategie der Deeskalation vom Minister und vom Landeshauptmann volle Anerkennung gekriegt.“
„Ja, aber sie verbrennen trotzdem die Kohle und blasen nach wie vor CO2 in gigantischen Mengen in die Atmosphäre. Da muss doch was getan werden! Das können wir doch nicht zulassen! Die Eisbären in Grönland sterben und ihr esst Grillwürstchen! Wir müssen etwas unternehmen!“
Meinrad musterte Annegrit eingehend. Dreiundzwanzigjährige Studentinnen, die mit vollem Eifer und aus tiefster Überzeugung die Eisbären Grönlands retten wollten, hatten etwas ausnehmend Anziehendes. Wahnsinnig sexy. Wie lange würde er brauchen, um mit ihr im Gebüsch zu verschwinden? Ein noch fernes Donnergrollen war zu hören, die dunkle Wolkenbank schob sich von einem auffrischenden Westwind vorangetrieben auf sie zu.
„Meine Mutter ist Mathematikerin“, sagte Meinrad nach einer ganzen Weile bedeutungsvollen Schweigens. „Sie hat ausgerechnet, dass ich in den letzten zehn Jahren, durch die Art, wie ich lebe, so viel CO2 -Äquivalente verbraucht habe, wie jemand, der einmal mit dem Auto von München nach Wien fährt. Bist du schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren?“
Annegrit schaute Meinrad entgeistert an. Also war sie schon mal mit dem Auto von München nach Wien gefahren. Den Vergleich hatte Meinrad natürlich frei erfunden, mit solchen kleinen Erfindungen gelang es ihm immer wieder wunderbar, die Selbstsicherheit sich für klüger, erfahrener und wichtiger haltender Menschen gezielt zu unterlaufen. Meinrad schaute kurz in den Himmel. In etwa einer halben Stunde